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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Aus der Samariterschule.

Welche Hülfe kann der Samariter bei Verblutungen leisten?
Von Prof. Esmarch in Kiel.

Die Thatsache, daß nicht blos in England, sondern auch in allen Ländern der Welt alljährlich unzählige Unglücksfälle vorkommen, in denen die Betroffenen eines elenden Todes sterben, weil Niemand da ist, der die nothwendige erste Hülfe zu leisten versteht, hat mich veranlaßt, die Samariterschulen in’s Leben zu rufen.

Wie jede gute und große Idee, so wird auch die der Samariterschulen ihre Anfechtungen erfahren, und schon erheben sich Stimmen von verschiedenen Seiten, um den Werth derselben herabzusetzen. Es fehlt mir an Zeit und Lust, auf diese Angriffe eingehend zu antworten. Ist die Idee gut, so wird sie sich schon selbst Bahn brechen; ist sie nicht lebensfähig, so wird sie alsbald wieder von der Tagesordnung verschwinden.

Es müßte auffallen, daß besonders von ärztlicher Seite gegen die Samariterschule Front gemacht wird, wenn man nicht wüßte, daß an vielen Orten die ärztliche Thätigkeit durch zahlreiche Pfuscher und Ouacksalber eingeengt wird, denen die unwissende Menge oft den Vorzug giebt vor den wirklichen Aerzten, während diese durch die Gesetze nur unzureichend geschützt sind. Und so fürchtet denn auch Mancher, daß in jedem Samariter ein solcher Afterarzt erstehen werde, der ihm gefährliche Concurrenz machen könnte.

Wohl aber ist es möglich, daß auch der Name „Samariter“ von einigen gewissenlosen Pfuschern dazu mißbrancht wird, um Unwissenden Sand in die Augen zu streuen. Wer aber meinen „Leitfaden für Samariterschulen“ und die „Satzungen des Samaritervereins“ mit entsprechender Aufmerksamkeit liest, der wird finden, daß es sich hier nur um die erste Hülfe vor Ankunft des Arztes handelt, daß fast auf jeder Seite des erwähnten Leitfadens der Rath ertheilt wird, zuerst nach ärztlicher Hülfe zu schicken, und endlich, daß die examinirten Samariter ausdrücklich verpflichtet werden sollen, ihre Hülfe unentgeltlich zu leisten.

Es ist aber auch gegen die Samariterbewegung von ärztlicher Seite geltend gemacht worden, daß dieselbe eigentlich ganz unnöthig sei, da es im Ganzen doch gar zu selten vorkomme, daß Menschen aus Mangel an schleuniger ärztlicher Hülfe zu Grunde gehen. Ja ein alter Arzt[1] hat sogar drucken lassen, es seien ihm z. B. in seiner dreiunddreißigjährigen Praxis im Ganzen nur zwei Fälle vorgekommen, wo er vielleicht hätte das entfliehende Leben zurückhalten können, wenn er rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre. Der erste Fall war ein Sensenhieb, der die Hauptschlagader am Oberarm trennte, der zweite ein geplatzter Blutaderknoten am Unterschenkel, aus dem sich eine alte Dame verblutete.

„Dies,“ sagt er, „waren die einzigen Fälle, in welchen ich mir mit einiger Wahrscheinlichkeit einbilden konnte und auch wirklich einbildete, daß ich hätte helfen können, wenn ich rechtzeitig zur Hand gewesen, aber das als absolut gewiß zu behaupten, kann mir nicht einfallen.“

Hätte der alte College, ehe er sein „Mahnwort in der Samariterfrage“ schrieb, meinen Leitfaden gelesen, so würde es ihm zur Gewißheit geworden sein, daß er in beiden Fällen das mit dem Blut entfliehende Leben hätte aufhalten können, in dem ersten Falle dadurch, daß er oberhalb der Wunde eine feste Einschnürung gemacht, in dem zweiten dadurch, daß er das einschnürende Strumpfband gelöst und das Bein in die Höhe gerichtet hätte.

Um aber derartige Stimmen von „alten Praktikern“ ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen in einer Sache, welche doch wirklich für eine so oberflächliche Behandlung zu ernst ist, will ich hier auf ein Capitel aus der Samariterschule etwas näher eingehen und an Beispielen zeigen, von welch unermeßlicher Wichtigkeit es sein kann, daß sachverständige Hülfe augenblicklich zur Hand sei, wenn ein Arzt nicht in der Nähe ist, und nachzuweisen suchen, daß auch Laien in den Stand gesetzt werden können, solche „sachverständige“ Hülfe zu leisten.

Wie Jedermann weiß, ist es gerade die Verletzung großer Adern, welche den Betroffenen mit raschem Tode durch Verblutung bedroht, und daß in sehr vielen Fällen dieser Art der Tod erfolgt, ehe ärztliche Hülfe zur Hand ist, davon wissen nicht blos die Chirurgen von Fach zu berichten, davon erzählen ja fast täglich die Polizeiberichte der Zeitungen, wenigstens in den größeren Städten. Und gerade über die Art der Hülfe, welche in solchen Fällen zu leisten ist, herrscht noch ganz allgemein die größte Unwissenheit und zwar nicht blos in den unteren Classen der Gesellschaft.

Aus eigener Erfahrung könnte ich von vielen Fällen dieser Art berichten. Ich will hier nur den letzten erzählen, der sich im vorigen Winter in Kiel ereignete und der meinen Entschluß, eine Samariterschule zu eröffnen, zur Reife brachte.

Der Besitzer eines kleinen Landgutes in der Nähe von Kiel, ein Mann in den besten Jahren, hatte das Unglück mit seinem Bein in eine Dreschmaschine zu gerathen, wodurch der Fuß und der Unterschenkel bis zur Mitte der Wade auf das Entsetzlichste zermalmt wurde. Da von den Seinigen Niemand es verstand, die erste Hülfe zu leisten, so packten sie den Unglücklichen so, wie er war, auf einen mit Stroh gefüllten Wagen und fuhren ihn langsam nach Kiel zur chirurgischen Klinik, wo er gegen Abend eintraf. Da ein Verband nicht angelegt, auch keinerlei Maßregel getroffen war, die Blutung zu hemmen, so war während des schmerzhaften Transportes das Blut aus den zerrissenen Adern unaufhaltsam in das Stroh geflossen, und so kam der Arme fast ganz verblutet im Hospitale an, wo ich sofort das gräßlich zerfleischte Glied durch die Amputation entfernte. Obwohl er nun durch diese Operation selbst kaum einen Theelöffel voll Blut verlor, auch in Folge der Chloroformnarkose keine Schmerzen dabei empfand, so waren doch durch den vorhergegangenen enormen Blutverlust und durch den schrecklichen Transport die Aussichten für die Erhaltung des Lebens äußerst gering geworden; es trat denn auch bald ein Wundstarrkrampf hinzu, der ihn unter großen Oualen dahinraffte.

Gleich darauf ging durch die Zeitungen die Erzählung von dem traurigen Tode des bekannten Bergführers Egger aus Grindelwald. Derselbe war mit dem Ingenieur Anderfuhren und dem Führer Kaufmann zum Mönchsjoch hinaufgestiegen, um einen Plan zum Neubau der dort befindlichen Berghütte des Alpenclubs zu entwerfen, und dann allein wieder zurückgekehrt, um den wegen Unwohlseins eine halbe Stunde unterhalb zurückgebliebenen Führer Schlegel ebenfalls heraufzuholen. Da die Nacht schon hereingebrochen und die Laterne der Hütte unerwarteter Weise weggenommen war, so machte Egger sich eine Flaschenlaterne, indem er einer Flasche den Boden ausschlug und inwendig in den Hals ein Kerzenstümpfchen steckte. Als er bei dem zurückgebliebenen Schlegel angekommen war, sich neben ihn gesetzt hatte und dieser sich anschickte, seine eigene Laterne anzuzünden, stieß Egger plötzlich den Ruf aus. „Herr Jesus, jetzt habe ich mich gehauen!“ Der Unglückliche scheint sich bei irgend einer hastigen Bewegung eine scharfe Spitze des Flaschenrandes gerade an der gefährlichsten Stelle in die Pulsader der rechten Hand hineingestoßen zu haben. Das Blut sprang in Strömen hervor, Schlegel eilte eine Strecke aufwärts und rief die Andern; Egger rief ihn aber sogleich zurück; er müsse verbluten, sagte er. Das Verbinden der Wunde half nichts, und den Arm weiter oben zu umschnüren, kam leider Keinem von ihnen in den Sinn. Die Beiden droben in der Hütte kamen erst gegen drei Uhr Morgens herab. Inzwischen war Schlegel erfolglos bemüht gewesen, Egger vor dem Tode zu bewahren; dieser war schon ganz schwach, und es würde beschlossen, Kaufmann solle mit Anderfuhren so schnell wie möglich zu Thal eilen und dort von dem Unglück Nachricht geben. Nun war Schlegel wieder allein mit dem sterbenden Egger. In edler Aufopferung blieb er bei ihm, bis der Arme — erst um sechs Uhr Morgens; so zäh war seine Lebenskraft — ausgerungen hatte, und dann noch eine ganze Stunde, um seines Todes sicher zu sein. Egger hinterläßt eine Frau und vier unmündige Kinder. Hätte er oder einer von den Anderen das einfache Mittel gekannt, die Pulsader am Oberarm mit einem Tragband, einem Knebeltuch oder einem Alpstock zusammenzudrücken, so wäre der Verblutungstod sicher zu verhindern gewesen.

Ich veröffentlichte diese beiden Fälle in unserer Zeitung und suchte dadurch das Publicum auf meine Samariterschule vorzubereiten,

  1. Dr. Schleich: „Ein Mahnwort in der Samariterfrage“. (Stettin, 1882)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_470.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)