Seite:Die Gartenlaube (1882) 471.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

welche ich bald darnach eröffnete. Vielleicht hat dies nicht wenig dazu beigetragen, daß sich eine so unerwartet große Zahl von Zuhörern zu meinen Vorträgen meldete.

Ehe ich aber mit diesen begonnen, erhielt ich von meinem Freunde Capitain Furley aus London ein kleines interessantes Buch, betitelt: „First aid to the injured“, worin sich ein Auszug aus den beglaubigten Listen von Unglücksfällen, in denen von examinirten Schülern der Ambulanceschulen die erste Hülfe in zweckmäßiger und erfolgreicher Weise geleistet worden, befindet.

Das Centralcomité in London sendet nämlich an alle Zweigvereine in ganz England Listentabellen aus, in denen alle derartige Samariterdienste, welche von den Schülern geleistet wurden, beschrieben und von den hinzugerufenen Aerzten beglaubigt werden.

Aus diesen Listen werden alljährlich vom Centralcomité die Resultate zusammengestellt und in kleinen Heften unter obigem Titel veröffentlicht.[1]

Unter der großen Menge von interessanten Fällen, welche in diesem Hefte erzählt werden, befinden sich achtzehn, in denen lebensgefährliche Blutungen durch rasche zweckmäßige Hülfe gestillt wurden, und zwar zum Theil von einfachen Arbeitern, von Polizei- oder Bahnbeamten, einige auch von Damen höherer Stände.

Ich will einen Theil derselben so kurz wie möglich hier wiedergeben, da sie auf manche Einwände, die gegen die Samariterbestrebungen gemacht worden, ein grelles Licht werfen.

Mr. Roß, Chirurg in Lavender Hill, schreibt:

„Ich hörte gestern von einem Unglücksfall, bei welchem sich einer unserer Schüler nützlich gemacht hatte. Es war gerade am Tage nach der letzten Vorlesung, daß einem Manne die Hand zwischen zwei Eisenbahnwagen zerquetscht wurde. Die Pulsader war zerrissen; unser Schüler, der zugegen war, improvisirte mit Hülfe eines Eisenbahnschlüssels eine Aderpresse und verband den Arm so gut, daß bei der Ankunft des Verletzten im Hospital der Arzt sich erkundigte, wer ihn verbunden habe, und erklärte, daß das Leben desselben durch den Verband gerettet worden sei. Nach drei Wochen konnte der Mann als geheilt entlassen werde.“

In dem „Kentish Mercury“, vom 13. März 1880 finden sich folgende Mittheilungen:

„Mr. Austen, Arbeiter in den Eisenwerken zu Greenwich, hemmte die heftige Blutung aus einer zerschnittenen Armpulsader bis zur Ankunft des Arztes und rettete so vermuthlich das Leben seines Mitarbeiters. Derselbe schiente zu der völligen Zufriedenheit des Chirurgen in dem Hospital, wohin der Patient gesendet wurde, mit improvisirten Mitteln einen gebrochenen Vorderarm.

Ein kleines Mädchen in Blackheath zerschnitt sich die Pulsader in der Handfläche beim Zerbrechen einer Glasscheibe. Ihr Vater, der die Ambulancevorlesungen in Blackheath besucht hatte, stillte die starke Blutung durch einen Druckverband auf die Oberarmpulsader.“

Der folgende Geschworenenbericht über die Leichenschau des Körpers eines Landmannes, Namens Grainger aus Darlington, der sich nach einer schweren Verletzung aus Mangel an richtiger Behandlung verblutete, kann besser als irgend etwas die Nothwendigkeit der „ersten Hülfe“ illustriren.

„Nach dem Bericht des ,Durham North Star‘ vom 18. September 1881 sagte der Dr. Middlemiß aus Darlington aus, daß er zwischen acht und neun Uhr nach dem Ochsenmarkt geholt worden sei, um den Verstorbenen zu sehen. Er habe ihn verblutend, pulslos, ohnmächtig gefunden. Er hatte einen complicirten Bruch des Oberschenkelknochens erlitten und blutete stark aus der zerrissenen Hauptpulsader in der Kniekehle. Man hatte den Versuch gemacht, die Blutung dadurch zu stillen, daß man ein Taschentuch unterhalb der Wunde um das Bein band. Dies konnte wohl die venöse (aus der Blutader), aber nicht die arterielle (aus der Pulsader) Blutung stillen; letztere hätte einzig dadurch gestillt werden können, daß man oberhalb der Wunde eine feste Umschnürung gemacht hätte.

Der Verletzte stand aufrecht an einem Pfahl (das wirksamste Mittel, um die Blutung zu unterhalten), unterstützt von zwei oder drei Mann, obgleich man in zwei Minuten Stroh vom North-Eastern-Hôtel hätte herbeischaffen können.

Er (Zeuge) habe sofort nach Stroh gesendet, den Verwundeten darauf gelagert und sich der Wunde angenommen. Nach seiner Meinung würde schon der Tod erfolgt sein, wenn er zwei oder drei Minuten später gekommen wäre. Die Maßregeln, welche man vor seiner Ankunft getroffen hatte, um die Blutung zu stillen, entsprachen durchaus der Unwissenheit der Leute, welche keine Kenntniß von den Anfangsgründen der Anatomie hatten. Wäre Jemand dagewesen, der auch nur die gewöhnlichste Kenntniß von dem Verlaufe der Pulsader besessen hätte, so würde das Leben des Verunglückten wahrscheinlich gerettet worden sein. Ein Schüler der Ambulancegesellschaft würde sofort dadurch die Blutung gestillt haben, daß er den Stamm der Ader an der geeigneten Stelle zusammengedrückt hätte. Dadurch aber, daß man den Verletzten so lange aufrecht stehen ließ, habe er eine enorme Quantität Blut verloren, und dieser Blutverlust habe seinen Tod verursacht. Es könne kaum angenommen werden, daß man den Verwundeten hätte stehen lassen, wenn man die schreckliche Art der Verletzungen erkannt hätte; denn der Oberschenkelknochen war in sechs Stücke zerbrochen und der Unterschenkelknochen sah aus, als ob er von einem Ende bis zum anderen mit einem Beile zerhackt worden wäre. Da so viele Schüler der St. John Ambulancegesellschaft sich in der Stadt befänden, so sei es sehr auffallend, daß Niemand daran dachte, einen von diesen zur Hülfe zu rufen. Von den Angestellten der Eisenbahnstation, welche sich kaum eine Minute vom Markte entfernt befindet, seien viele durch die Ambulancegesellschaft ausgebildet, und da er selbst einer von den Examinatoren gewesen, so könne er nur Rühmliches berichten über die Kenntnise, welche diese und andere Bewohner der Stadt gezeigt hätten, und doch habe man Niemanden zur Hülfe gerufen. Er habe sich selbst diesen Morgen auf der Station erkundigt und habe erfahren, daß die Hülfe von wenigstens einem halben Dutzend vollkommen ausgebildeter Helfer zu haben gewesen wäre.

Der Todtenschauer erklärte, daß er niemals bei einer Leichenschau gegenwärtig gewesen sei, welche solche Belehrung gegeben hätte, und er hoffe, der Vertreter des ‚North Star‘ werde das gewichtige Zeugnis des Dr. Middlemiß in Betreff der Wichtigkeit und auch der Nothwendigkeit den Unterrichtes der Ambulancegesellschaft zu verwerthen wissen.

Die Jury erklärte, daß der Tod durch den Shock der Verletzung erfolgt, aber beschleunigt worden sei durch den Blutverlust, und sprach den Wunsch aus, daß der ,North Star‘ die Bemerkungen des Dr. Middlemiß veröffentliche.“

Die folgenden Fälle wurden berichtet von Herrn Barrington Kennett, Vorsitzendem der Metropolitandistricte I und II:

„Im Skating Rink zu Nizza wurde Lady Borthwick gebeten, einem amerikanischen Seemann beizustehen, der gefallen und seinen Arm gebrochen hatte. Einige Herren unter den Zuschauern, welche herbeigelaufen waren, hatten mit ihren wohlgemeinten, aber unkundigen Bemühungen, dem verletzten Manne beizustehen, ihm nur noch mehr Schmerzen bereitet, als Lady Borthwick ankam und nach genauer Untersuchung des Armes den Knochen gebrochen fand. Sie verband ihn sorgfältig mit einer Pappschiene und mit des Seemanns seidenem Taschentuch, legte ihm mit einem zweiten Taschentuch eine Armschlinge an und sendete den Mann in ihrem eigenen Wagen zu dem nächsten Arzte.“

„Miß S. Forster hielt sich im vorigen Sommer in Down House, Audower, auf, als ein Knabe, der ein Fenster reinigte, eine Scheibe zerbrach und sich dabei einen tiefen Schnitt in den Vorderarm zuzog. Die eine große Pulsader war durchschnitten, und der Knabe blutete entsetzlich, obwobl ein Diener die Wunde fest verbunden hatte. Er war fast schon bewußtlos, als Miß Forster zum Glück zur Hülfe kam. Sofort machte sie aus alter Leinewand, die sie zerriß, eine Binde, mit der sie den Arm oberhalb den Ellbogens fest umwickelte, und so gelang es ihr, die Pulsader zusammenzudrücken und die Blutung in dieser Weise zu stillen, wie sie es in unserer Schule gelernt hatte. Dann machte sie ein dreieckiges Tuch aus einer zerschnittenen Serviette und legte den Arm des Knaben mit erhobener Hand in eine Schlinge. Die Zuschauer waren sehr erstaunt, als sie sahen, daß die Blutung stand, obwohl sie gegen das, was die Dame vornahm, protestirt hatten. Die Wunde des Knaben heilte, und wenn Miß Forster ihn auch nicht gerade vor dem Verblutungstode gerettet hatte, so verhütete sie wenigstens, daß er eine sehr große Menge Blut verlor, was seine Gesundheit vielleicht dauernd würde geschwächt haben.“

Diese Damen hatten beide an den St. John-Ambulanceschulen Theil genommen.

Auszug aus einem Briefe des Predigers E. Pophan Miles, eines der ältesten und eifrigsten Freunde unserer Gesellschaft.

„Monkwearmouth Vicarage, Sunderland, 17. Octaber 1881.

Lieber Major Duncan!

Hier ist ein guter Fall. Während des letzten Sturmes am Freitage wurde hier ein Pferdebahnwagen umgeworfen, und ein fünfzehnjähriger Knabe erlitt dabei einen Oberschenkelbruch. Er wurde in ein naheliegendes Haus getragen, und Mr. Swan, der das letzte Examen unserer Ambulanceschule bestanden hat und zufällig in der Nähe war, hatte den Knaben auf einen Tisch gelegt, hatte Stücke Holz, die er als Schienen und Bandagen gebrauchen konnte, geliehen und das Bein so sorgfältig und so sachgemäß verbunden, daß der Chirurg unseres Hospitals, wohin der Knabe gebracht wurde, mich versicherte, daß der vorläufige Verband des gebrochenen Beines auch von einem Arzte nicht besser hätte angelegt werden können. Der Patient wurde gleich in eines unserer Betten gelegt, und es ging ihm außerordentlich gut.

Der Fall wird dadurch noch interessanter, daß, während Mr. Swan mit dem zerbrochenen Gliede beschäftigt war, man eine Locomotive bis zu unserem Hospital laufen ließ, welche alsbald mit unserem Chirurgen Dr. Chalmes zurückkehrte. Derselbe kam zeitig genug, um den Knaben auf eine Matratze lagern zu helfen, die man in dem Hause borgte, und dieselbe auf die Locomotive zu bringen, welche dann den Patienten unter Aufsicht des Chirurgen und des examinirten Ambulanceschülers nach dem Hospital brachte.

Nun, was sagen Sie dazu?

Für mich ist es die Krönung aller meiner Thätigkeit während fünfundvierzig Jahren als Diener der christlichen Kirche gewesen, daß ich helfen konnte mit Ihrer ganz besonderen Hülfe einen Verein zu organisiren, um Schüler zu unterrichten und die Ambulancebewegung zu fördern.“

So spricht und schreibt man in England über den Nutzen der Ambulanceschulen.

Dr. Schleich hat nun zwar (Seite 10) die Behauptung aufgestellt,

  1. Das Comité des deutschen Samaritervereins in Kiel beabsichtigt diesem Beispiel zu folgen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_471.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)