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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

oder priesterlichen Ritter, mit welchen die Stadt stets im Streit lag, behauptend, sie hätten in sich die bösen Eigenschaften sowohl der Junker, wie auch der Pfaffen vereinigt, mit Ausschluß der guten — jene geistlichen Herren, von welchen ein bis auf den heutigen Tag gekommenes schelmisches Rothenburger Volkslied singt:

„Kleider aus,
Kleider an,
Essen, trinken,
Schlafen gahn:
Ist das Werk,
So die Deutschherrn
Vor sich han.“

Auch die Patriciergeschlechter, in deren alleiniger Hand ursprünglich das städtische Regiment lag, sind, als sich die Umwälzung zu ihrem Nachtheil vollzogen, größtentheils ausgewandert nach anderen Reichsstädten, wo sie jedoch später ebenfalls das Geschick der Mediatisirung und der Annexion, welchem sie für immer zu entfliehen gedachten, ereilt hat. Viele Familiennamen, welche gegenwärtig noch in Ulm, Augsburg, Nürnberg etc. glänzen, sind Rothenburger Ursprungs, aber in Rothenburg sind sie verschwunden.

Geblieben ist der Kern der Bevölkerung, ein fleißiger, kluger und rühriger Bürgerstand, welcher sich vermöge dieser seiner Eigenschaften, im Gegensatze zu den „Geschlechtern“, der „Ehrbarkeit“ und den Deutschordensherren, hier auch seine bürgerliche und wirthschaftliche Stellung bewahrt hat.

Die Bewohner Rothenburgs haben nämlich den Umstand, daß weithin keine andere Stadt liegt, mit der ihnen eigenen Tüchtigkeit zu benutzen verstanden, und sich so das alte Hinterland und die alte Kundschaft bewahrt; es wird neue dazu kommen, sobald die Eisenbahn weitergeführt ist.

In mancher anderen altehrwürdigen Stadt würde es sich seltsam ausnehmen, wenn die Bürger von heute in den stattlichen Formen und Farben des fünfzehnten oder sechszehnten Jahrhunderts auftreten und die Hergänge von damals in einer Umgebung erneuern wollten, welche nichts ist als das traurige Schattenbild einer vergangenen Größe, welche sich nichts gerettet hat als die Poesie des Verfalls und die Sympathie mit dem Unglück.

In Rothenburg ob der Tauber ist das anders: Hier kann die Gegenwart „Vergangenheit spielen“, weil sie noch in vielen und in entscheidenden Stücken ein würdiges Spiegelbild der Vergangenheit ist, ohne deshalb der Gegenwart zu entsagen. Dies ist die „berechtigte Eigenthümlichkeit“ Rothenburgs, wodurch es sich von vielen deutschen Städten unterscheidet, ja vielleicht ist es nicht zu viel behauptet, wenn man sagt: von allen anderen deutschen Städten.

Dies tritt uns sichtbar und greifbar vor die Augen, wenn wir die Stadt durchwandern, unter Anderem z. B. auch in den Tafeln von weißem Marmor, welche an einer ziemlich großen Anzahl von Häusern angebracht sind und deren Inschriften uns verkünden, was sich vormals in dem betreffenden Hause zugetragen, welches Geschlecht das Haus bewohnt, welche Kaiser und Fürsten da Quartier genommen, welche historischen Personen darin geboren oder gestorben und was sonst für wissenswürdige Dinge dort passirt sind.

Nehmen wir dazu das soeben erschienene Buch des Herrn Heinrich Weißbecker, eines kundigen und zuverlässigen Forschers in Rothenburger Dingen, betitelt: „Rothenburg ob der Tauber, seine Alterthümer und Inschriften“, so sind wir im Stande, uns rasch und bequem topographisch-historisch zu orientiren. So viel ich weiß, ist es auch Weißbecker, der die Anregung zur Anbringung jener Marmortafeln gegeben.

Die in Obigem geschilderte Eigenthümlichkeit der Stadt ist es, welche die Aufführung dieses historischen Festspiels ermöglicht und uns den Schlüssel giebt zur Erklärung des wunderbaren Eindrucks, den dasselbe in uns Allen hinterlassen.

Die Bühne befindet sich, wie bereits gesagt, Ende Mai 1882 in demselben Rathhause, in welchem sich Ende October 1631 die Ereignisse zugetragen haben, die uns vorgeführt werden. Der Schauplatz ist also derselbe. Ja, die Requisitstücke sind dieselben: Die Schlüssel, welche dem siegreichen Feinde in dem Stücke überreicht werden, sind in Wirklichkeit die echten und veritabeln Schlüssel zu den noch vorhandenen Schlössern der noch vorhandenen schweren Thüren in den noch vorhandenen massigen Stadtthoren. Der kunstvoll geschnitzte Schrank, aus welchem die Schlüssel heute herausgenommen werden, ist derselbe, in welchem sie schon vor dritthalbhundert Jahren aufbewahrt wurden.

Wenn in dem Stücke die Orgel der Kirche erklingt, so ist das die Orgel der Jacobi-Kirche, welche schon 1631 erklungen. Dasselbe gilt von dem Liede: „O komm mit Deiner Gnade“, wie auch das Glöcklein, welches für die Armensünder geläutet wird, und das, welches die Senatoren auf das Rathhans ruft, noch immer dieselben sind.

Ja, der Kanonendonner kommt aus den nämlichen alten Feldschlangen, welche 1631 fungirt haben. Man hat der Stadt in der Rheinbundeszeit von all ihren Trophäen nur diese drei Geschütze gelassen — wahrscheinlich, weil sie nichts taugten; denn das eine davon ist in Folge der Schlechtigkeit des Materials, woraus es gegossen, kürzlich gesprungen, nicht ohne mehrere Leute zu verletzen. Wenn die Geschütze gelöst werden sollen, das heißt wenn die Aufführung bis zu den Stellen gelangt ist, wo der Text des Stückes das Schießen vorschreibt, wird ein rothweißes Fähnlein (roth und weiß sind die Farben des Stadtwappens: eine rothe Burg in einem weißen Felde) zum Rathhausfenster hinausgehängt, und dann erdröhnen die Geschütze.

Und die Kirchenglocken, welche in dem Stücke zu läuten beginnen, sind dieselben Glocken der St. Jacobs-Kirche, welche schon im October 1631 geläutet haben. Dieser Glocken sind sechs, nämlich die Wetterglocke, die Thorglocke, die Predigtglocke, die Mittagsglocke, die Todtenglocke und die Vesperglocke. Sie sind — so besagen die Inschriften — alle Anno 1626 gegossen, und zwar, wie es auf der Wetterglocke heißt, während der Regierung der Bürgermeister Johannes Bezold und Johannes Staudt („Joanne Bezoldo et Joanne Staudtio consulibus, aedisque hujus curatoribus, vere felicibus“, welche beiden Männer, wie wir sehen werden, auch in unserem Festspiele auftraten.

Was sagen die Meininger zu solchen Requisiten? Wie vermögen sie gegen diese echten alten Glocken, Schlüssel, Schränke, Feldschlangen etc. aufzukommen? Haben sie so doch nur Nachahmungen! Ihr Schwert Hermann’s des Cheruskers, die Bärenhaut der Thusnelda, der Lorbeer und die Toga des C. Julius Cäsar — alles eitel Imitation! Hier dagegen Alles von beglaubigter, unzweifelhafter — ich möchte sagen: von wahrhaft monumentaler Echtheit. Also hierher, nach Rothenburg, müßt ihr kommen, ihr Freunde historisch-antiquarischer Feinschmeckerei! Hier ist alles wahr, alles echt. Hier giebt es keine falschen Schlüssel und keine nachgemachten ägyptischen Königstöchter.

In Obigem habe ich mich bemüht, eine kurze Schilderung der örtlichen Voraussetzungen zu geben, ohne deren Kenntniß der Gang und die Wirkung des Festspiels nicht zu verstehen ist. Im zweiten und letzten Abschnitte meines Artikels werde ich dieses Festspiel selbst und das Nachspiel beschreiben; Illustrationen werden meine Erzählung veranschaulichen.

Vorläufig giebt das der gegenwärtigen Nummer beigegebene große Bild eine Gesammtdarstellung des Saals und der Bühne; es zeigt im Vordergrunde das Publicum, welches den Saal füllt, dann die Bühne, welche die eine Schmalseite des Saals einnimmt und nur eine geringe Tiefe hat. An der Rückseite derselben steht der alte Schrank, in welchem die Stadtschlüssel verwahrt werden. Außer den beiden sich rechts und links befindenden Thüren hat die Bühne noch einen dritten Zugang von großer Eigenthümlichkeit. Ich werde davon in dem nächsten Artikel reden. In der Mitte steht vor dem Sitzungstisch der Senator Nusch, im Begriffe, den Meistertrunk zu verrichten; auf der einen Seite sitzt Tilly mit seinem Leib-Dominicaner, seinen Verbündeten und Generalen, auf der andern stehen die Senatoren und die Kriegsknechte. Oben, zwischen den Trophäen — den kaiserlichen auf der einen und den rothenburgischen auf der andern Seite — präsentirt sich das Bild Nusch’s, der das Capitol und das Leben der Senatoren rettete — nicht durch Schnattern wie weiland die Gänse, sondern durch tapferes Trinken.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_495.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)