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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

zu kündenden Spruches zu vermissen, eine Silbe falsch zu betonen, bezähmt sie ihr eigenes Gefühl, um nicht zur schuldigen, trügerischen Interpretin zu werden. Sie entsagt den eigenen Eingebungen, um als unbestechliche Vermittlerin, als treue Auslegerin die Orakel zu verkünden. Und so ist sie von Andacht beherrscht, daß das bewegliche menschlichere Element vor dieser objectiven Interpretation der Kunst fast gänzlich zurücktritt. Dagegen wird Niemand in der ergreifenden Wahrheit ihr den Vorrang abgewinnen, mit welcher sie die durch volles Verständniß geheiligten Meister vorträgt. – Selten wird wieder, wie sie, eine Frau ihr ganzes inneres Leben in die Kunst übertragen, um nur noch in ihrem Gebiet zu fühlen und zu genießen. Eine vorwurfsfreie Vollendung charakterisirt jeden Ton dieser sanften leidenden Sibylle, die, Himmelsdüfte athmend, mit der Erde nur noch durch ihre Thränen verbunden bleibt.“

Und an anderer Stelle sagt er: „Es ist öfters bemerkt worden, wie genau gewissenhaft Frau Schumann’s Vorbereitungen zum öffentlichen Auftreten sind, wie sie die Tastatur durchspürt und jeden Ton prüft, dessen wenn auch richtiger Klang die gewollte Resonanz und Färbung nicht vollständig hergiebt, wie sie sorgt, daß ihr Sitz nicht um das Geringste zu hoch oder zu niedrig sei, wie sie nicht allein lange Stunden auf dem Piano übt, was sie spielen soll, um alle seine Feinheiten, Schwächen und Vorzüge kennen zu lernen, sondern womöglich in dem betreffenden Saale selbst, um abzulauschen, wie in dessen Akustik jeder Accord, jedes Arpeggio, jedes Anschwellen und Abnehmen der Tonfluthen sich ausnehmen wird. Wir können darin nur eine Nothwendigkeit ihres Wesens sehen, eine Consequenz ihrer Verfahrungsweise, ihrer Auffassung von Kunst, Berufstreue und Schwierigkeit der künstlerischen Lebensaufgabe, die ihr nicht erlaubt, ihrer von der Gunst des Augenblicks und der Stimmung abhängigen persönlichen Begeisterung zu vertrauen, sie vielmehr überzeugt, daß, um der Würde der Kunst treu zu bleiben, man zu jedem ihrer Feste mit demselben Ernste, derselben Weihe schreiten muß. In jeder Hinsicht makellos, ist sie durch andauernde Sorgfalt, Energie des Willens und ascetische Hingebung zu einer Meisterschaft gelangt, die sie gewissermaßen als unfehlbar stempelt.“

„Andere dichten – sie ist eine Dichtung,“ schreibt Schumann von Clara, der Hiller mit Recht nachrühmt, daß sie inmitten aller Triumphe stets das „einfachste, wahrhaftigste, echteste Weib, die aufopferndste Mutter, die getreue Freundin“ bleibt. Berlioz nennt sie „die Erste und Einzige“, und Liszt fügt hinzu: „Wenn auch Viele mehr Lärm machen, Wenige geben so viel Musik.“

Nahezu zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit Liszt jene Worte schrieb; aber sie haben ihnen nichts von ihrer vollen Geltung geraubt. Als die berufenste Vermittlerin der unter ihren Augen entstandenen, vielfach für sie selber gedachten und durch sie allmählich populär gewordene Schöpfungen ihres Gatten wie der classischen Meisterwerke bewundern wir sie noch heute und ehren und lieben in ihr mit Hans von Bülow’s Worten die „noch immer unentthronte Königin der Clavierspielerinnen“.





Die neue französische Jugendwehr.

Am 13. Juli dieses Jahres, am Vorabende des französischen Nationalfestes, paradirte das jüngst in’s Leben gerufene Pariser Schülerbataillon uniformirt und bewaffnet vor dem Kriegsminister und vor der festlich gestimmten, aufjauchzenden Pariser Einwohnerschaft. Daß an dieses Auftreten zukünftiger Krieger die Zuschauer hochgehende Hoffnungen knüpften, läßt sich bei dem sanguinischen Charakter der Franzosen als selbstverständlich voraussetzen. Dieses Auftreten war die erste öffentliche Kundgebung der seit Kurzem gesetzlich im ganzen Gebiete der französischen Republik eingeführten soldatischen Ausbildung der schulpflichtigen Jugend. Mit dieser Ausbildung hat man sich keine geringere Aufgebe gestellt, als die Wehrkraft des Volkes zu heben, oder, wie der Minister Jules Ferry in seinem officiellen Rundschreiben an die Schulbehörden des Landes vom 29. Mai 1880 sagt, „die beabsichtigten Erfolge unserer Militärgesetze zu sichern“.

Den militärischen Vorrang, in dessen vollständigem Besitze man sich jenseits des Rheines bis zum Kriege von 1870 und 1871 glaubte, hofft man zu einem Theile damit wieder zu erlangen, daß man in den Schulen Marschübungen und Ausflüge mit den Knaben anstellt, ihnen Gewehre zum Exerciren in die Hände giebt und im dritten Trimester Unterricht im Schießen ertheilt, das nach der Erklärung des Ministers „ebenfalls großes Interesse darbiete“. Neben diesen militärischen Uebungen ist gleichzeitig in allen öffentlichen Unterrichtsanstalten für Knaben durch das Gesetz vom 27. Januar 1880 das Turnen obligatorisch eingeführt. Auch dies betrachtet man „als eine unerläßliche Ergänzung des Schulunterrichts“ und hat daher für beides bestimmte Stunden des Schulplans in Anspruch genommen.

Man sieht aus diesen Neuerungen, daß unsere Nachbarn etwas von uns gelernt haben, indem sie erkennen, daß die Erziehung der heranwachsenden Generation zu körperlicher Kraft und Gewandtheit eine Hauptbedingung des nationalen Aufschwungs und namentlich die nothwendige Grundlage für die allgemeine Heerpflicht ist.

Auch weiterhin giebt sich jenseits der Vogesen das Verlangen kund, in beregter Richtung Versäumtes nachzuholen. So wurde in den letzten Jahren den Bestrebungen der französischen Turnvereine seitens der Vertreter der Regierung eine bisher ungewohnte Aufmerksamkeit geschenkt. Am 6. Februar 1880 z. B. empfing der Kriegsminister in Paris den Präsidenten und den Delegirten des Verbandes der französischen Turnvereine. Der Präsident betonte in seiner Ansprache, daß „die Turnvereine einen Bindestrich zwischen Schule und Armee bildeten“, worauf der Minister versprach, die Vereine auf alle mögliche Weise zu begünstigen. Ferner wurde das von ungefähr 2000 Turnern am 28. Mai dieses Jahres in Rheims abgehaltene französische Turnfest ausgezeichnet durch die Anwesenheit des Unterrichtsministers Jules Ferry, des Ministers des Innern Goblet und des Generals Chanzy. Ferry pries vom pädagogischen Standpunkte aus das Turnen als eine Vorschule der Disciplin, des Pflichteifers, freiwilliger Unterordnung, ohne welche gerade die Republik nicht bestehen könne. Andererseits begrüßte Goblet die Turnvereine als die schönsten Blüthen des Vereinswesens, des Geistes der Association, der in Frankreich noch gar sehr der Entwickelung bedürfe. Man hat sich also in Frankreich entschlossen, die Pflege des Turnwesens mit allen Kräften zu fördern.

Es liegt im französischen Nationalcharakter, jede Neuerung schwungvoll in Scene zu setzen. So mußten denn im vorliegenden Falle die kleinen Turner Uniformröcke erhalten und Gewehre in die Hände bekommen. Das ist natürlich in Frankreich eine begreifliche Erscheinung, doch wird man wohl in Paris kaum geahnt haben, daß diese, man möchte sagen, harmlose Spielerei in gewissen deutschen Kreisen eine unverkennbare Eifersucht und den Wunsch nach Nachahmung wach rufen werde. Das geschah aber wirklich; denn man hat es für angezeigt gefunden, in einem Theile der deutschen Presse unter Hinweisung auf die französische Jugendwehr die Einführung einer soldatenmäßigen Ausbildung der im schulpflichtigen Alter stehenden deutschen Knaben zu erörtern. Man witterte in dieser französischen Neuerung für uns eine Gefahr und vergaß doch ganz und gar, daß die französische Behörde nur das nachgeahmt hat, was seiner Zeit in Deutschland von einer Anzahl von Vereinen angestrebt und ausgeführt worden ist. Uns allen sollte noch erinnerlich sein, daß zu Anfang der sechsziger Jahre in der Zeit des ersten Aufwallens politisch freier Regungen nach einer sterilen Reactionsperiode sich Vereine gründeten, welche Jugendwehren in’s Leben riefen. So wurde z. B. zur Zeit des ersten deutschen Bundesschießens im Juli 1862 in Frankfurt eine Jugendwehr gegründet, und andere Orte, wie Heidelberg, Darmstadt, Wiesbaden, folgten bald diesem Beispiele. Die Frankfurter Jugendwehr hielt im Jahre 1864 zwei Manöver ab, und das Jahr darauf im September kamen die Jugendwehren aus vielen Städten in Frankfurt zusammen, um einen Jugendwehrtag und Tags darauf ein Manöver abzuhalten, an welchem sich die Stuttgarter sogar mit vier Kanonen und vierundvierzig Artilleristen betheiligten. Württemberg war in Angelegenheiten der Jugendwehr allen voran.

„Die Bedeutung dieser Institute,“ schrieb man damals, „steht außer Frage. Sie sind ein wichtiges Erziehungsmittel. In ihnen liegt aber auch der fruchtbarste Keim für die Wehrtüchtigkeit des Volkes, und sie befördern den Geist der Vaterlandsliebe.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_608.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2023)