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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Sie griff nach ihrem Gebetbuch. Aber ihr Blick blieb auf dem in Elfenbein geschnitzten Einband haften. Er zeigte eine Auferstehung der Todten: den zu Gericht sitzenden Gottvater, Posaunen blasende Engel und die Erde, die ihre Todten wieder gab. Da stiegen sie heraus, die Armen, aus den flachen Erdwellen, demüthig arbeiteten sie sich empor im Leichenhemd, aber an den Grabhäusern, wo die Rathsherren schliefen, standen Engel und öffneten, dienstbereit wie Knechte, die Pforte, und herfür gingen die stolzen Patrizier in nadelspitzen Schnabelschuhen, Pelzschauben und Gogel.

Ursula schleuderte das Buch von sich. O, was hatte der alte Meister für geschickte Hände gehabt und für einen ungeschickten Kopf, daß er sich die ewige Seligkeit also fürstellte! Sollte die, so einem vornehmen Geschlecht entsprossen war, in alle Ewigkeit verflucht sein, abgesondert von denen zu bleiben, die keinen großen Namen trugen?

Der Athem fehlte ihr; es litt sie nicht mehr in der engen Stube. Sie konnte nicht einmal beten hier. Sie hüllte sich in Sturz und Mantel, um nach St. Sebaldus hinüber zu gehen, nach dem einsamen Winkel, wohin sie seit Jahren mit ihrem schwer bedrückten Herzen geflüchtet war, wo das Bild des verlornen Sohnes stand. Mit brechenden Knieen schlich sie durch die von den Hängelampen nur schwach erleuchteten Gänge. Die Glasaugen der ausgestopften Vögel sahen ihr gespenstisch nach. Unter ihren verblichnen Federn hatte einst auch ein warmes Herz geklopft, und nun standen sie von Motten zerfressen auf dürrem Holz, der Stunde harrend, wo die letzte Faser in Staub zerfiel.

Auf der Schwelle zögerte ihr Schritt. Dahin hatte seine liebe Hand den Veilchenstrauß für sie gelegt, ein Zeichen, daß er ihrer gedachte. Ihr Blick glitt flehend zu dem Marienbilde empor, das die Mauer ihres Hauses schmückte. Aber entmuthigt sank er wieder herab. Das war nicht die Schmerzensreiche mit den sieben Schwertern in der Brust, an die sie sich hätte wenden mögen. Das war die stolze gekrönte Himmelskönigin. Was hätte auch die demüthige Magd im Hause des Hochmuths zu schaffen gehabt?

Sie schritt der Kirche zu durch das nach dem Rathhaus strömende Volk, welches trotz der späten Stunde von der dröhnenden Musik wach erhalten wurde. Aus dem grellen Schein, den die am Portal lodernden Pechpfannen warfen, trat sie in den stillen Kirchhof. Da war das Schreyer’sche Grabmal, das an jenem traurigsten Morgen ihres Lebens geweiht worden war. Viele von denen, die damals mit ihr hier auf den Knieen gelegen, schliefen den ewigen Schlaf; die Andren tanzten dort drüben einen fröhlichen Reigen. Sie allein war ausgezählt. Sie war nicht todt, und sie lebte auch nicht.

Vor den Heiligenbildern brannte hier und da ein Lämpchen, von flehenden Händen gestiftet. Nur in dem Winkel, wo sie Trost suchte, lagerten tiefe Schatten. Sie vermochte das alte Bild nicht mehr zu erkennen. Ihr Blick glitt langsam an den Pfeilern empor. Droben strahlte Stern an Stern. Der Wind, der die Kerzen und Lampen löschte, vermochte dort oben nichts auszublasen. Sie hob die Arme. Langsam und laut sprach sie in die flüsternde Nachtluft hinein:

„Herr des Himmels und der Erde! Vergieb, daß ich arme Magd mich ohne Fürsprache der Heiligen an Dich wende! Es geht aber anjetzo die Red, wir dürften uns nit fürchten, Du hörtest alle Deine Kinder an. Und der gerade Weg ist mir allezeit der liebste gewesen. So höre mich also! Du hast jeder Creatur eine frohe Stunde gegeben: die Rose darf blühen, die Lerche singend in den Himmel fliegen; selbst das Mücklein freut sich spielend im Sonnenlicht. Nur ich bin in Nacht gewandelt zeitlebens – das weißt Du – und nur Du allein. Und bin ich nicht auch Dein Geschöpf wie die Andren? Hast Du den Frauen den Wunsch ihres lustigen Sinnes nach einer nichtigen Haube erfüllt, so kannst Du rechtschaffner Weise nicht Nein sagen, wenn ich Dich bitte: Zeig mir den Weg, auf den ich mir ihn, der das Glück und die Freude meines störrischen Herzens war, rette aus Narrenthum und Schellengeklingel! Erhöre mich!“

Sie schaute inbrünstig empor.

Da löste sich neben ihr ein hoher grauer Schatten aus dem Winkel und trat heran.

„Wen erflehst Du für Dich, Ursula?“ sprach eine bebende Stimme.

Ihr stockte der Athem. Dann brach es jubelnd über ihre Lippen:

„Friedel! Gott sei gepriesen, der mich erhörte!“

„Ja,“ sagte der lustige Rath ernst, „er hat es gnädig gefügt, daß wir uns versöhnt die Hände reichen dürfen, bevor wir für immer scheiden.“

„Scheiden für immer, da wir uns eben erst gefunden?“ flüsterte Ursula mit bebenden Lippen. „Kannst Du mir nicht verzeihen? Sieh, hier hebe ich meine Hände zu Dir auf und bitte: Vergieb mir meine Schuld, wie Du willst, daß Dir vergeben werde!“

Er zog ihre Hände sanft herab.

„Ich habe Dir lange vergeben. Das Schicksal hat Deinen strengen Urtheilsspruch bestätigt. Ich habe die Schellen getragen in bittrem Ernst. Aber die Stunde ist gekommen, da ich die Schmach von mir werfen muß. Ich bin heimlich von der Burg entwichen und auf dem Wege in.die Welt hinaus. Nur einmal wollte ich das Bild vom verlornen Sohn noch sehen, von dem man mir sagte, daß Du gern davor betest.“

„Du willst abermals gehen?“ rief Ursula verzweifelnd. „Und ich soll allein sein immerdar?“

„Was bleibt uns sonst übrig?“ fragte er bitter. „Die Kluft zwischen dem Hofnarren, der jederzeit auf den mit Eselsohren verzierten Stuhl gewiesen werden konnte, und der Patriciertochter ist zu tief.“

„Welche Kluft überbrückt die Liebe nicht?“ rief sie. „Verbirg’ Dich, bis der Erzherzog fort ist. Die geschornen Locken müssen wachsen; der Bart muß fallen, daß das liebe Friedelgesicht wieder zum Vorschein kommt. Dann trittst Du herfür als weitgereister, vielerfahrener Mann. Wer könnte dann den lustigen Rath in Dir ahnen? Und wer sollte Dir die Ehre weigern,“ fuhr sie, stolz sich aufrichtend, fort, „wenn Du an meiner Hand Dich zeigst, mit unsrem Wappen, und den Platz einnimmst, auf dem Du seit nahezu zwanzig Jahren stehen solltest? Die Patricier selbst werden Dir die Rathsherrnstelle antragen.“

Er trat einen Schritt zurück.

„Seit wann zieht die Frau den Mann zu sich empor? Ich will nicht mit einem Wappen stolziren, das ich mir nicht selbst errang; ich will nicht weise Narrheit, die Menschheit zu knebeln, auf dem Rathhaus ausbrüten, lieber närrische Weisheit auch fürder verkündigen, und ich will nicht unter Euren schweren Steinplatten begraben sein, sondern unter einem grünen Baum und blauen Veilchen ruhen, daß der Finke über mir sein Lied schmettern kann.“

„So laß mich Dir folgen auf den Armenkirchhof!“ sprach Ursula leise.

Ueber sein Gesicht flog ein heller Schein; aber er bezwang sich. Sein Blick fiel ernst auf sie nieder, als er sprach:

„Du gefällst Dir im Großmüthigsein heute wie damals. Du bist dieselbe geblieben; ich aber bin nicht mehr der junge Friedel, dessen einziges Ziel der Besitz eines geliebten Weibes war. Da mein Weg in Finsterniß führte, ist mir ein Licht aufgestrahlt und zum Leitstern geworden. Es ist die neue Zeit, die mächtig heraufsteigt. Meine Seele hat sich dem Mönch von Wittenberg zugewendet, und ich will eher Leib und Leben und selbst Dich verlieren, ehe ich ihn wieder aufgebe, der das göttliche Wort so hell und klar in sich trägt und mit so großem Sieg und Triumph aus freimüthigem und unerschrocknem Geist verkündet.“

Die Geschlechterin neigte demüthig das mit dem Sturz geschmückte Haupt vor dem Mann mit der Narrenkappe.

„Dein Gott sei mein Gott! Auch ich habe heut’ in der schwersten Stunde meines Lebens Zuflucht bei ihm gesucht ohne Fürsprache der Heiligen, und er hat mich erhört.“

Da schloß er sie in seine Arme. Dann richtete er sich auf und sprach:

„Nun lebe Wohl, Ursula, bis wir frei und offen vereint vor unsre Vaterstadt hintreten können!“

„Aber wie willst Du Dich flüchten?“ fragte sie angstvoll, „und wohin Deinen Schritt wenden?“

Er lächelte.

„Ich kenne von meinen wilden Knabenjahren her jedes Eckchen, jeden Steg in Nürnberg. Ein altes Pförtlein in der Stadtmauer ist heut’ wie vor zwanzig Jahren fest verschlossen, aber die Angeln sind so rostig wie damals. Ich will den bekannten Weg noch einmal gehen. Bin ich erst draußen, so finde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_635.jpg&oldid=- (Version vom 1.5.2023)