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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Nun, über den Geschmack ist nicht zu streiten; mir – und wenn es auch nur wenige Augenblicke des Tages sind – würde der Aufenthalt ....“

„Wissen Sie, mein Bester,“ unterbrach Arndt den jungen Mann, „es sind doch in den meisten Fällen wirklich nicht die Dinge an sich, die den Werth einer Sache ausmachen, sondern das Unsichtbare, aber Eigenthümliche um sie her – ich meine: die Stimmung, welche sie einhüllt und sozusagen trägt, ungefähr wie die Sphäre den Weltkörper trägt. Und ich muß Ihren Wahn bewundern, daß man in Berlin, unmittelbar an einer lebhaften Straße in einem sechs Fuß breiten Garten diese Stimmung antreffen könnte, selbst wenn man Zeit hätte, sie zu suchen.“

Arndt hatte kaum ausgeredet, als er sich plötzlich von seinem Gefährten abwandte und das lebhafte Gesicht mit einem aufhorchenden Ausdruck gegen das besprochene Vorgärtchen kehrte – aber nur eine Secunde lang; dann widmete er sich wieder dem jungen Manne, und dieser bemerkte nicht, daß etwas Zerstreutes in den Zügen des Architekten zurück geblieben war.

Nach wenigen Schritten trennten sich die beiden Herren; denn Arndt war vor seiner neuen Wohnung in Nummer Elf angelangt. Er zögerte, bevor er die Klingel des Portiers drückte, und als er es schließlich dennoch that und im nämlichen Augenblick die Hausthür aufsprang, zog er dieselbe hastig wieder von außen zu, sah mechanisch die Straße herab, auf welcher sein jugendlicher Bekannter bereits verschwunden war, und trat dann zögernd mit einem eigenthümlichen Lächeln der Selbstverspottung in das seither verschmähte Paradies des kleinen Gartens ein.

Derselbe lief als schmaler Streifen die Front des Hauses entlang und erweiterte sich nach der einen Giebelseite hin zu einem kleinen Viereck. Er war nach der Straße zu mit eisernem Gitterwerk und spanischem Flieder eingefaßt, und das kleine viereckige Hauptstück wurde durch eben dieselbe Umfriedigung von den zu Nummer Zehn gehörigen Gartenanlagen getrennt; nur daß hier die Fliederbüsche schon etwas höher waren, weshalb sie die Aussicht oder richtiger gesagt: die Einsicht hinderten.

Trotzdem war es der Nachbargarten, welcher Arndt in diesem Augenblick seine Abneigung gegen das „Gärtchen“ überwinden ließ; denn in ihm hatte er vorhin von der Straße her Stimmen zu vernehmen geglaubt, welche ihn interessirten.

Schon während der ersten Wochen des Mais war er mehrmals beim Hinaustreten auf die Straße oder bei der Heimkehr in’s Haus an einer jungen Dame vorübergegangen, welche einen fünf- bis sechsjährigen Knaben an der Hand führte. Beide waren, wie er bald bemerkte, Bewohner des Nachbarhauses und hatten ihn seit der ersten Begegnung lebhafter beschäftigt, als andere Vorübergehende.

Sie sahen sich nicht ähnlich. Der Knabe war auffallend hellblond, und hatte sehr lebhafte, phantastische blaue Augen und einen großen, ungewöhnlich sprechenden Mund, gegen welche die kleine abgestumpfte Nase merkwürdig zurücktrat. Die Dame dagegen war entschieden dunkelblond, und die Züge ihres feinen Gesichts, in welchem die leicht gebogene Nase als besonders schön auffiel, wiesen auch nicht die geringste Aehnlichkeit mit denjenigen des Knaben auf. Trotzdem waren Beide Mutter und Sohn; denn Arndt hatte öfter im Vorbeigehen gehört, daß der stets aufgeregte und, wie es schien, namentlich beständig fragende Knabe seine Begleiterin „Mama“ nannte.

Sonderbar! Wie konnten Mutter und Sohn sich so unähnlich sein? Auch die Augen der Dame erinnerten in nichts an die ihres Sohnes; es waren große rehbraune, etwas verschleierte Augen mit einem geheimnißvollen, vorzugsweise sinnenden Ausdruck, der nur dann einem kurzen Aufleuchten wich, wenn der interessante Knabe sie etwas fragte und sie sich, lebhaft antwortend, zu ihm wandte, offenbar überrascht und erfreut über den Gegenstand, wie über die Art seiner Erkundigung. Wenn Arndt sie nicht von Anfang an mit dem Knaben zusammen gesehen hätte, würde er sie für ein ungewöhnlich fesselndes junges Mädchen mit schönen, aber eigenthümlich frauenhaften Augen gehalten haben.

Wer mochten Mutter und Sohn sein? Trotz unzähliger geschäftlicher Dinge, die ihn gerade jetzt belagerten, war Arndt doch immer wieder auf diese Frage zurückgekommen; der Knabe war eben kein gewöhnlicher Knabe und seine Mutter keine alltägliche Frau – sie interessirten ihn.

Deshalb gab er auch jetzt diesem eigenthümlichen Interesse nach und folgte ihren immer deutlicher werdenden Stimmen bis in die äußerste Ecke des Gärtchens, in welcher das Grenzgebüsch am höchsten war. Hier hatte der Wirth einen kleinen grünen Käfig angebracht, welchen er eine Laube nannte, und als Arndt jetzt in denselben eintrat, bemerkte er, daß sich in unmittelbarer Nähe des diesseitigen Gartenhäuschens auch ein jenseitiges befand.

Der Wirth hatte vor Kurzem seine Laube in Ordnung gebracht, das heißt: alle herabhängenden Zweige möglichst straff und gerade in die Höhe gebunden, wodurch an der einen Stelle eine kleine Lücke und somit ein Durchblick nach dem anstoßenden Garten entstanden war.

Diesen zu benutzen, konnte sich Arndt – trotz inneren Widerstrebens – nicht enthalten, und als er durch die Oeffnung des Gebüsches blickte, sah er, daß die Mutter auf einem niedrigen Stühlchen unter einem breitästigen Obstbaum saß, welcher sich aus der Mitte des grünen Rasenplatzes erhob, der einen Haupttheil ihres Gartens ausmachte, während der Knabe unausgesetzt um den Platz herumlief und mit hochrothem Gesichte einen Reifen vor sich hertrieb.

Arndt’s Blick blieb mit ungetheiltem Interesse auf der Mutter haften, welche er zum ersten Male in Hauskleidung, das heißt: ohne Hut und Umhang, sah. Sie trug glattgescheiteltes Haar und am Hinterkopfe eine starke Flechte, welche sie geschmackvoll um einen hohen Stamm gelegt hatte. Glanz hatte ihr Haar nicht, aber Arndt fand, daß die große Schlichtheit desselben gut zu dem feinen Gesichte und dem zarten Teint stand. Ihre Gestalt war schön und jugendlich voll, und es war gut, daß der zierliche Kopf von einer solchen getragen wurde, weil die ganze Erscheinung sonst einen fast zu idealen Ausdruck gehabt hätte.

Sie hatte Arndt das Profil zugekehrt; um ihren Mund lag ein schwärmerischer Zug, und die nicht ganz regelmäßig gebildete Stirn hatte etwas Geheimnisvoll-Energisches.

Plötzlich wandte sie sich so, daß er ihr auch voll in die Augen sehen konnte. Sie ließ ihre Handarbeit in den Schooß sinken und blickte lebhaft nach dem Knaben.

„Es ist heiß, Curt; laufe Dich nicht außer Athem!“ rief sie mit tiefem, weich metallenem Organ.

„O, ich hab’ noch viel Athem. Hör’ mal, Mama!" antwortete er wichtig, ließ den Reifen mitten im Wege liegen, stürzte auf sie zu und athmete mit aufgeregter Miene immer schnell hinter einander, indem er sich dabei auf die kleine Brust klopfte.

„Es ist schon gut, Narr; ich höre, wie prächtig Du athmen kannst,“ sagte sie und streichelte ihm mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Liebe und Fürsorge das kleine glühende Gesicht. – Da sah auch der Junge zu ihr empor, und in seinen Augen blitzte es vor leidenschaftlicher Zärtlichkeit auf, sodaß sich die Pupillen erweiterten und die Augen auf Secunden ganz dunkel erschienen. Auch lächelte er dabei so lieblich und glückstrahlend, daß er für einen Knaben fast unnatürlich hold aussah.

„Wart’!“ sagte die Dame plötzlich und sprang leichtfüßig wie ein Kind empor. „Sieh zu, ob Du mich greifen kannst?“

Der Kleine war außer sich vor Vergnügen, und unter lebhaftem Wetteifer liefen Mutter und Sohn mehrmals um den Rasen, bis die junge Frau schließlich das Ziel erreichte.

Sie stand jetzt wieder einen Augenblick mit dem Antlitze voll gegen Arndt gewendet; und ihm war, als sähe er plötzlich ein völlig verwandeltes Wesen vor sich. Ein wunderbar rührender, fast kindlicher Liebreiz hatte sich über ihre interessanten Züge ergossen. Ihre zarten Wangen glühten, und aus ihren großen frauenhaft ernsten Augen brach ein unschuldiges Schelmenglück hervor, das neckend, wie leuchtender Sonnenglanz, zu ihrem kleinen Gefährten hinüberspielte.

Doch alles dies war wie eine Fata Morgana – flüchtig, wie eine zauberhafte Spiegelung, welche dem Auge Dinge zeigt, die für gewöhnlich nicht in dem Kreise des Sichtbaren liegen.

So wie Arndt sie eben gesehen hatte, war sie vielleicht als Kind, als muthwilliges Mädchen gewesen; so hatte sie vielleicht gelacht und geblickt, ehe sie Frau geworden war.

Während der ungewöhnlich belustigte Curt mit erneutem Eifer sein Reifenspiel wieder aufnahm, setzte sich die Mutter auf ihr geschütztes Plätzchen zurück; ihr Blick wurde wieder innig gedankenwoll; ihre Bewegungen nahmen das alte sanfte Ebenmaß an, welches sie auszeichnete, und nur ihre Wangen waren noch lebhaft geröthet, als sie sich mit nachholendem Eifer über die Handarbeit beugte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_654.jpg&oldid=- (Version vom 2.5.2023)