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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


No. 47.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Der Stein des Tiberius.

Novelle von F. Meister.
(Fortsetzung.)

„Am nächsten Tage langte Wenzel’s Schwester, eine Frau Dörpinghaus, aus dem Wupperthale, in Rom an und mit derselben eine junge Dame, welcher gegenüber sich Wenzel zu allerlei vetterlichen Diensten verpflichtet fühlte, wenngleich dieselbe eigentlich nicht mit ihm verwandt war. Helene Dörpinghaus war nämlich ihrer Begleiterin Stieftochter, das Kind des reichen Fabrikherrn, dessen zweite Frau Wenzel’s Schwester ungefähr acht Jahre zuvor geworden war. Herr Dörpinghaus hatte kürzlich das düstere Wupperthal mit dem Himmel vertauscht, und so erschienen die beiden Damen noch in tiefer Trauer. Diese äußeren Zeichen eines gemeinschaftlichen Schmerzes ließen sie als ein Paar harmonisch und innig verbundener Wesen erscheinen. Frau Dörpinghaus, welche nur zehn Jahre mehr zählte als ihre Stieftochter, war ein prächtiges, treffliches Weib, unberührt von dem öden Muckerthum ihrer zweiten Heimath, und man konnte ihr schlechterdings nur den einen Vorwurf machen: daß sie alle Leute für ebenso brav und gut hielt, wie sie selber war. Ihr Aeußeres war frisch; sie lachte gern und sprach viel und laut, sodaß in den Museen, den Gallerien und Kirchen sich die steifen Nacken englischer Touristen oft genug mißbilligend nach ihr herumdrehten.

Wenzel hatte früher zuweilen geäußert, daß er vor Frauen, die sich mehr als nöthig bemerkbar machten, einen wahren Abscheu empfinde, jetzt aber schien er die sprudelnde Lebendigkeit seiner Schwester gar nicht zu bemerken und erfüllte den Damen gegenüber seine Obliegenheiten als ihr natürlicher Schutz, Rathgeber und Cavalier so unverdrossen und mit so großem Geschick, daß ich darüber einigermaßen in Verwunderung gerieth. Die Erklärung dieser Umwandlung aber lag nicht fern; es gab zu diesem Geheimniß einen Schlüssel, der in so viele Schlösser paßt: mein Freund hatte sich in Fräulein Dörpinghaus in aller Eile verliebt.

Helene Dörpinghaus war eine zierliche, schlanke Blondine; die Trauerkleidung verlieh ihrem zarten Gesichtchen einen süßen, kindlichen Schmelz. Sie trug ihr Haar, nach der Art der frommen Frauen ihres heimatlichen Thales, schlicht über die Schläfen herabgekämmt und hinten in einen griechischen Knoten geschürzt; ihre blauen Augen blickten ernst, kalt und scheu, in den Tiefen derselben aber schien es zu schlummern wie eine Verheißung von Wärme, ja von Gluth – vielleicht ihr selbst noch unbewußt.

Sie redete nur wenig, und mit mir wechselte sie täglich wohl kaum ein Dutzend Wort; dennoch muß ich gestehen, daß ihre Augen einen eigenthümlichen Bann auch auf mich ausübten.

Wenzel machte aus dem Zustande seines Herzens mir gegenüber nicht lange ein Geheimniß, und ich erhielt wieder eine bessere Meinung von meinem Freunde, der in Folge der Affaire mit dem Stein des armen Angelo im Grunde doch empfindlich in meiner Schätzung gesunken war. Oft genug fragte ich mich, ob er denn wirklich kein Herz im Leibe habe, zuweilen aber auch, ob in seinem Kopfe wohl Alles in Ordnung sei. Jetzt aber war in ihm eine gesunde, rechtschaffene, natürliche Leidenschaft erwacht, die nur ein tüchtiger, braver Mann empfinden konnte, und die den, der sie in sich trug, erheben und vervollkommnen mußte – das freute mich.

Ich begann daher zu hoffen, daß vor dem Sonnenschein dieser Liebe auch die Abneigung, dem Italiener sein Recht zukommen zu lassen, dahinschmelzen werde. Sinn und Seele lagen meinem Freunde in Zauberketten; er wurde ein ganz Anderer, und wochenlang dachte er nicht daran, seinen bitteren, unbarmherzigen Witz für sein unschönes Antlitz in die Schranken zu schickem. Sein Glück erfüllte ihn vollständig, und man sah ihm eine recht innerliche Zufriedenheit deutlich an. Zuweilen, wenn wir Beide beisammen waren, brach er plötzlich in ein nervös-lustiges Gelächter über seine eigenen Gedanken aus, und wenn er sich dann weigerte, mir dieselben gegen die conventionelle Scheidemünze mitzuteilen, dann kam ich zu der Ueberzeugung, daß er rein aus humoristischem Erstaunen über sein blindes Glück so heiter sei; denn wie in aller Welt hatte gerade er es fertig gebracht, das Wohlgefallen der reizenden Helene zu erregen?

Von Letzterer hatte ich hierüber natürlich keine Aufklärung zu erwarten, mit der hübschen Wittwe aber sprach ich gern und viel über das Paar, so oft dasselbe sich unserer Gegenwart entzog, was gar häufig geschah.

‚Mir vertraut sie kein Wort von ihren Empfindungen,‘ sagte das gutmüthige Frauchen, ‚und Räthsel,‘ fügte sie in ihrer humoristischen Weise hinzu, ‚habe ich bisher immer nur dann rathen können, wenn die Auflösung schwarz auf weiß darunter zu lesen war. Mein Bruder ist doch wirklich kaum eine fesselnde Erscheinung zu nennen, und dennoch glaube ich sicher, daß Helene sich sehr zu ihm hingezogen fühlt. Aber wer kann’s denn wissen, wie die Liebe ihn in ihren Augen verklären mag? Wer kennt alle die Geheimnisse jener curiosen kleinen Maschinerie, welche die jungen Mädchen ihr Herz nennen? Helene ist ein merkwürdiges und absonderliches Geschöpf, nicht eigensinnig, aber phantastisch. Vielleicht ist es ihr in den Sinn gekommen, meinen Bruder gerade wegen seiner Häßlichkeit zu lieben. Vielleicht will sie absolut nur einen geistig bedeutenden Mann, und da Wilhelm weder schön, noch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 773. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_773.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2023)