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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Sie wissen Bescheid hier?“ fragte ich den Schwager auf dem Bock; „ich will im ,Hirsch’ absteigen.“

Das gebräunte Gesicht unter dem Wachstuchhut sah mich verschmitzt lächelnd an.

„Bin ein Falkeroder Kind, Herr Baumeister; meine Alte ist fünfunddreißig Jahr botenweis gegangen nach Bernerode hinauf, auf alle die Dörfer und Mühlen – kenne Weg und Steg hier herum; übrigens giebt’s nur ein Gasthaus hier; der Herr hat keine Wahl; es liegt gleich um die Ecke des alten Hofpredigerhauses.“

Er wies mit der Peitsche auf ein hohes, finsteres Gebäude. – Also das mein Reiseziel!

Massig hob es sich empor mit seinem spitzgiebeligen Dache und den altersgrauen gewaltigen Mauern; den erblindeten Butzenscheiben der zahlreichen kleinen Fenster vermochte selbst die funkelnde Herbstsonne kein Blitzen abzuschmeicheln. Ein mächtiges Frontispiz mit dem Wappen des fürstlichen Hauses, dem springenden Hirsch, geschmückt, krönte das Ganze, und den decorativen Schmuck vollendeten schiefergedeckte Eckthürmchen nebst kunstvoll gearbeiteten Nischen von Sandstein; sie befanden sich zur Seite der mächtigen Eingangsthür, auf deren Rundbogen ich im raschen Vorbeifahren las:

Anno Domini 1605.

Ich hatte nicht lange Ruhe in dem sauberen Gasthof, an dessen primitiver Table d’hôte, welche ich mit zwei Handlungsreisenden und einem Förster theilte, mich sogar die Krammetsvögel nicht zu fesseln vermochten. Ich schickte den Burschen in kurzer Jacke, der mir als Kellner vorgestellt worden, gleich nach Tische zum Schloßcastellan mit der Frage, wann er mich in das Hofpredigerhaus führen könne; denn mir war die Weisung geworden, mich an diesen zu wenden, auch habe er Befehl erhalten, mich zu geleiten.

Der Alte sei über Land zur Taufe eines Enkels, berichtete athemlos der Kellner; die Frau habe das Reißen und könne nicht wohl mitgehen, aber wenn der Herr bis vier Uhr warten wollte – um vier Uhr käme „die Dorchen“ aus der Stadt zurück und könne mir aufschließen.

Was blieb mir übrig? Ich mußte schon auf Dorchen warten, und die vier Stunden mußten auf irgend eine Weise todtgeschlagen werden. Ich schrieb einen längeren Brief an meine Braut, als ich aber nach dessen glücklicher Expedirung in den Postschalter ungeduldig nach der Uhr sah, war es eben fünf Minuten über halb Drei; ich ergriff daher Hut und Stock, um in den Straßen des Städtchens ein wenig zu flaniren.

Auf dem freien Platze unterhalb des Schlosses war es noch ebenso einsam, wie vorhin; nur einige beerensuchende Kinder zogen mit klappernden Pantoffeln in den Wald, und ein Jägerbursche, dem ein großer Hund auf den Fersen folgte, verschwand pfeifend in einem mit Hirschgeweihen decorirten Hause.

„Die Oberförsterei vermuthlich,“ sagte ich halblaut und ließ meinen Blick über die den Platz begrenzenden Gebäude schweifen. Welch wunderbare Zusammenstellung! An den alten Renaissancebau des Hofpredigeramtes lehnte sich ein zweistöckiges Gebäude, jedenfalls dem Rococo entstammend; es war, als suchte es, wie eine alternde Schöne, seine Hinfälligkeit unter blaßrothem Anstriche und weißen Stuckguirlanden zu verstecken; dann wieder die schmucke, in Schweizerstil erbaute Oberförsterei und Wildmeisterei, und hier – was war das?

Ich hatte dem alten Hause den Rücken zugewendet und sah hinüber nach einem Baue, der sich am Fuße des bewaldeten Kegels, welcher das Schloß trägt, aus üppigem Grün emporhob. Einem griechischen Tempel nachgebildet, trugen auf stufenförmigem Unterbaue sechs schlanke dorische Säulen das Architrav mit dem krönenden Giebelfelde, und von diesem leuchtete und funkelte in der Herbstessonne die goldene Inschrift zu mir herüber:

„Apollini et Musis,
Anno D. 1670.“

„Dem Apoll und den Musen geweiht,“ sagte ich halblaut, „das Theater des kleinen Hofes.“

Unwillkürlich sah ich mich um; gegenüber lag das ehrwürdige Pastorhaus und schaute fast verächtlich mit halbblinden Augen sein leichtsinniges vis-à-vis an, das ihm so ostentativ vor der Nase lag – in wahrhaft antiker Schönheit.

„Eine merkwürdige Nachbarschaft,“ setzte ich mein Selbstgespräch fort, und schritt nun zu meinem eigentlichen Reiseziele hinüber. Alte ausgetretene Sandsteinstufen führten zu einer mächtigen eisenbeschlagenen Hausthür; drohende Lindwurmköpfe aus kunstvoller Bronze-Arbeit bildeten den Drücker und Klopfer, und auf dem Rundbogen las ich fast andächtig eine lateinische Inschrift aus dem Jahre 1605 – ich glaube, sie besagte: „Du, Gott, bist mein Heil. Was kann der Mensch mir schaden?“

Ich betrachtete noch eine Zeitlang das Haus und dachte schon jetzt mit herzlicher Freude daran, den alten schönen Bau zu renoviren. Grün und schattig lag hinter den eisernen Gitterthoren der Schloßgarten. Ich durchwanderte die prachtvollen Alleen, erstieg die Terrassen und bewunderte die rauschenden Springbrunnen und Cascaden. Auch hier kein Mensch – eine fast spukhafte Einsamkeit allenthalben! Ich promenirte um das ganze Schloß herum, stand auf der prächtigen aussichtsreichen Rotunde vor demselben; ich sah zu den geschlossenen langen Fensterreihen empor und ging über den einsamen Schloßhof. Ein starker Zugwind strich mir entgegen. Am Schilderhaus stand schläfrig ein Posten; aus der Wachtstube erscholl ein herzhaftes Gähnen.

Vielleicht weist mich Jemand hier hinaus, dachte ich und hoffte im Stillen, ein lebendes Wesen zu erblicken, das mich, wenn auch grob, doch wenigstens anspräche. Umsonst – ich hätte ruhig in das geöffnete Portal treten, durch alle Gemächer wandern können; mir wäre höchstens eine gespenstige weiße Dame begegnet.

Und plötzlich fand ich mich wirklich eingetreten und schritt die breite mattenbelegte Treppe empor. Eine Flügelthür gerade vor mir stand offen und ließ mir den Eingang in einen Saal frei, dessen Wände mit Portraits fast bedeckt waren. Man schien hier beim Aufräumen zu sein; denn es lagen Besen und Tücher am Boden, und an einigen Fenstern hatte man die Wetterrouleaux emporgezogen. Ich sah das nur flüchtig; denn mich fesselte zunächst dem Eingange das prächtig gemalte Bild einer Dame in der Tracht aus der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts: aus purpurrothem Sammet hob sich ein wunderbar weißer Hals, auf dem ein von braunem Gelocke umwallter feiner Kopf saß, anmuthig etwas zur Seite geneigt. Das schmale Gesicht hatte etwas unendlich Anziehendes durch ein Paar schwärmerische blaue Augen, die unter dunklen Brauen aufblickten; nur die feine, kurze Nase und ein fast zu voller rother Mund wollten kaum zu dem sinnenden Ausdruck der Augen passen, und dennoch war das Gesicht von bestrickendem Reize. „Louise Charlotte, Prinzessin zu Z.,“ las ich an der Verzierung des Rahmens. „Sie starb unvermählet im fünfundachtzigsten Jahre ihres Lebens,“ hatte man daneben notirt.

Ich wagte nicht, weiter in den Saal vorzudringen, sondern wandte mich nur noch einmal im Hinausgehen nach dem schönen Frauenkopfe um, dessen sinnender Blick mir zu folgen schien, und während ich die Treppe wieder hinunterschritt, grübelte ich nach, warum denn wohl diese reizende Prinzessin einsam geblieben? Meine Phantasie fühlte sich in dem spukhaft einsamen Schlosse zu allerlei Spielereien angeregt, combinirte mir wahrhafte Romane, in denen natürlich die schöne Louise Charlotte immer die unschuldig Leidende blieb.

Ungesehen gelangte ich über den Schloßhof, suchte eine der reizenden Lauben auf, hob keck die seidene Schnur, welche die Landesfarben trug – sie suchte mir vergeblich ein mahnendes „Verbotener Eingang!“ zuzurufen – und setzte mich auf eine der bequemen Bänke, entzückt von der herrlichen Berglandschaft, die im glühenden Scheine der späten Nachmittagssonne vor mir lag. Ich dachte mir dieses Schloß um zweihundert Jahre zurück, in die Zeit, da die Prinzessin gelebt und das kleine Schauspielhaus dort unten erbaut wurde. Ich erinnerte mich, daß die fürstliche Familie noch heute stolz darauf ist, die edle Kunst des Schauspiels mit am ehesten in Deutschland gepflegt zu haben. Im Geiste sah ich einen ehrwürdigen Hofprediger an das Fenster seines dort unten gelegenen Hauses treten; betrübt gewahrte er, wie das Volk zur Kurzweil und sündlichen Narrethei in den griechischen Tempel strömte – ich meinte seine Seufzer zu hören. Wer weiß, ob nicht die schöne Prinzessin das Komödienspiel protegirte? Schon wieder spann ich einen neuen Roman, der ganz verwegen darauf hinauslief, daß sie heimlich einen Komödianten liebte und, weil sie nicht die Seine werden durfte, unverheirathet blieb. Und bei der weiteren Ausschmückung dieses Capitels überkam mich die Müdigkeit – ich schlief ein, auf der fürstlichen Bank, in der verbotenen Laube.

Es schlug sechs Uhr vom Schloßthurme, als ich erwachte —

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_806.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)