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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

um vier Uhr hatte das unbekannte Dorchen meiner warten wollen. Schon senkte sich leichte Dämmerung über die Berge; es war windig geworden, und im Westen hatte sich schwarzes Gewölk gelagert, von der untergehenden Sonne mit blendendem Scheine umsäumt. Hastig eilte ich durch die verschlungenen Gänge den Schloßberg hinunter, vorüber an dem Theater, und stand bald tiefathmend vor der Pforte des alten Predigerhauses. Sie war nur angelehnt, ein mächtiger Schlüssel steckte von außen im Schlosse; also man wartete meiner.

Ein unangenehmes Rasseln begleitete das Oeffnen der schweren Thür, und vor mir that sich ein weiter Hausflur auf, in dessen Ecken schon farblos die Dämmerung lag. Ich schloß die Thür hinter mir und wartete auf das Dorchen – kein Laut im ganzen Hause!

„Ist denn hier Alles verhext und verzaubert?“ raisonnirte ich ärgerlich und riß die Thür mit der rasselnden Schelle heftig noch einmal auf, um sie gleich darauf geräuschvoll wieder zu schließen; es lärmte gewaltig und klang verdoppelt von den Wänden zurück, aber es rührte sich nichts.

Ich hatte Muße, mich hier vollständig zu orientiren: unter der Decke mächtiges dunkles Balkenwerk, hüben und drüben Thüren im Rundbogenstil, zu denen einige Stufen emporführten; geradeaus eine breite Treppe mit kunstreichem Eisengeländer und links und rechts von ihr ebenfalls zwei Bogenthüren, wahrscheinlich zu den Wirthschaftsräumen oder in den Garten führend. Die einst weiß getünchten Wände schmückten lebensgroße Oelbilder in schwarzen schmalen Holzrahmen, von Staub und Spinnengewebe überzogen und nachgedunkelt; ich konnte in dem einen Bilde, vor dem ich gerade stand, nur mit Mühe das Portrait eines geistlichen Herrn aus längst vergessenen Zeiten erkennen. Ich betrachtete sie einen Augenblick, das Warten darüber vergessend.

„Alte Schinken!“ sagte ich halblant, „deshalb wahrscheinlich hier verblieben.“

Und noch einmal aufhorchend, ob nicht endlich Jemand komme, wollte ich mich schon zum Gehen wenden, um nicht gar noch in die Bude eingeschlossen zu werden, als ein leiser schlürfender Tritt an mein Ohr tönte und gleich darauf eine kleine gebückte Frauengestalt die breite Treppe aus dem obern Gestock herunter kam: ein Mütterchen in altmodiger Kattunhaube; die Brille auf die Stirn geschoben, trug sie einen langen weißen Strickstrumpf in den knöchernen Händen, den sie nun gewandt unter den Arm schob, um mit zitternden Fingern ein Schlüsselbund loszunesteln, das ihr zur Seite hing. Sollte das Dorchen sein? Ich hatte sie mir eigentlich anders vorgestellt.

Nun, gleichviel – sie wollte wenigstens aufschließen. Ohne ein Wort zu sprechen, stieg sie wieder treppauf, und ich folgte ihr die ächzenden Stufen hinan, über einen gypsgegossenen Flur; vor einer altersbraunen eichenen Thür blieb sie stehen und öffnete. Ich trat in ein fast leeres Gemach, in dem nur ein grüner ungeheuerlicher Kachelofen zu bemerken war, daneben ein Tischchen, bedeckt mit mancherlei Papieren, und ein Stuhl.

„Das Haus ist schon lange unbewohnt?“ fragte ich meine schweigsame Begleiterin.

Ein stummes Kopfnicken war die Antwort, aber sie rückte dabei den Stuhl, wie um mich einzuladen, ich solle Platz nehmen.

„Was sind das für Papiere?“ forschte ich.

„Ein alter Plan des Hauses,“ erwiderte sie, „den Durchlaucht vor Jahren hat anfertigen lassen, als Sie einen Umbau vorhatten.“

„Ah so, jedenfalls angenehm, daß er schon vorhanden; es erspart mir Arbeit. – Das Haus ist völlig leer?“ erkundigte ich mich weiter, „kein Geräth und keine Möbel mehr?“

„Etwas altes Gerumpel, Herr, und was so noch in den Wandschränken steckt – sonst nichts!“

Sie räusperte sich und fuhr dann fort:

„Dorchen hat vorhin erst noch einen Wust alter Papiere gefunden, in dieser Stube, dort im Spind am Ofen; sie hat’s zusammengeklaubt und wieder hineingethan. Den Schrank haben wir auch so zufällig entdeckt; er war mit Tapeten überklebt und mag lange nicht offen gewesen sein; denn die Schriftstücke sind gelb geworden, und die Würmer treiben ihr Wesen damit; sie sind morsch zum Zerfallen.“

Ich hörte schweigend zu – die Stimme der Alten klang so monoton; es war beinah finster geworden, und die dumpfe Luft lag erstickend und schwer auf mir.

„Ich kann das Haus heute Abend nicht mehr besichtigen,“ sagte ich dann.

„Ja, der Herr war nicht grad’ pünktlich; wer kann’s ändern,“ erwiderte die Alte mit einem gewissermaßen vorwurfsvollen Ton; „hat die Dorchen doch schon zwei volle Stunden vergebens hier gesessen! Da hat sie denn überall umher gestöbert; sie sagt, die Weil wär ihr nicht lang worden; sie hätt’ in den alten Papieren gelesen; indeß, sie mußt’ Abendbrod besorgen – da ist sie nun fort. Sie weiß besser Bescheid als ich; ich kann nichts dafür.“

Ich stand in Gedanken, ärgerlich, daß der Tag verloren. Der Prinzessin hatte ich versprochen, gleich über den ersten Eindruck zu berichten: ich hätte so schön einen Anschlag machen können während des langen Herbstabends; was sollte ich nun beginnen? Schlafen? Ich war so völlig munter geworden nach meinem Schlummer. Punsch trinken? Darnach war die Stimmung nicht. Irgend etwas mußte doch –

Da blitzte mir ein Gedanke durch den Kopf.

„Könnte ich wohl Licht, etwas Abendbrod und Feuerung hierher bekommen?“ fragte ich. „Ich möchte noch ein wenig arbeiten.“

Die Alte schwieg mürrisch.

„Werde Dorchen fragen,“ murmelte sie dann und schlürfte langsam aus der Thür.

Nach einer Weile klang das Rasseln der Schelle durch das stille Haus, und in dem spärlichen Dämmerlichte sah ich die Frau über den Platz schwanken; der Wind zerrte an ihren Kleidern, und die ersten Regentropfen schlugen klatschend an die Scheiben.

So stand ich lange und sah zu dem Schlosse hinüber und zu dem kleinen Theater. Es war mir seltsam zu Muthe in dem öden alten Hause, um das der Wind jetzt so merkwürdig heulte, in dem unheimlichen Zwielicht um mich her. Wie manches Stückchen Menschenleid und Menschenfreud’ mochten diese Räume gesehen haben, wie manch ein Kind mochte hier geboren, wie Mancher hinausgetragen worden sein, und Allen war wohl das gemeinsame Loos beschieden, jubelnd Glück und tiefer Jammer, Enttäuschung und immer wieder Enttäuschung! Wer das gleich so Alles wüßte – wenn die stummen Wände zu erzählen vermöchten!

Eine Stunde mochte vergangen sein – da rasselte die alte Schelle wieder; das klang viel frischer als vorhin; dann kam ein leichter Frauentritt die Stufen herauf und näherte sich meiner Thür; mit einem fröhlichen „Guten Abend!“ ward diese geöffnet, und ein junges Mädchen erschien auf der Schwelle, ein Windlicht in der Hand, dessen Schein voll ihr frisches Gesichtchen traf. Am Arm trug sie einen Henkelkorb, aus dem ein Flaschenhals verheißend hervorlugte.

Ohne sich mit langer Vorrede aufzuhalten, ging sie rasch an ein Gemüthlichmachen des Zimmers, zuerst an den Ofen, in dessen weitem Rachen bald prasselnd die Buchenscheite brannten; dann ward im Umsehen aus dem Nebenzimmer ein zweiter Tisch herbeigeholt, fingerdicker Staub abgewischt, ein blendend weißes Tuch aufgedeckt und gar appetitlich mit kalter Küche und Wein besetzt. Ein ungeheurer Ohrenstuhl mit defectem Ueberzug stand bald davor; die Läden wurden vor die Fenster geschlagen; die Lampe brannte, und so wohnlich es in einem leeren Zimmer nur je aussehen kann, war es hier geworden.

Als das hübsche Mädchen mit ihren Anordnungen fertig war, blieb sie stehen und sah mich lächelnd an:

„Wunderlich ist’s doch, Herr Baumeister,“ begann sie, „bei meinem Enkel, dem Hirschwirth, ist es so gemüthlich Abends in der Gaststube; er sticht heut echtes Bier an, und der Schloßteich ist gefischt: es giebt delicate Schleie und Karpfen; die sämmtlichen Beamten sind da, sogar der Herr Oberförster und der Rentmeister, und Sie setzen sich in das alte spukhafte Haus und wollen studiren, wie die Großmutter sagt?“

„Ich denke, Sie haben das heute auch gethan, Fräulein Dorchen? Sie haben ja wohl sogar einen Fund gemacht?“

Sie nickte.

„Freilich! Aber das ist nichts für Sie; das hat ein Frauenzimmer geschrieben; Christiane heißt sie, und hier im Hause wohnte sie – soviel habe ich herausgekriegt, und des Pastors Tochter ist sie gewesen. Da ist das Zeug.“

Sie öffnete mit Mühe einen schmalen Wandschrank; eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_807.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)