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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Gemache gar heftig auf und abzugehen, gleichwie der Hirsch, den sie im Zwinger des Schloßgartens gefangen halten. Hedwige aber war still hinaus gegangen.

Dann plötzlich blieb er stehen:

‚Es ist Zeit, daß ich mit dem Vater spreche, Christel,‘ hub er an, ‚ich kann nimmer mehr lange hier weilen; das enge Haus drücket mich gleichwie ein Gefängniß, und die Wände wollen mich schier zerquetschen, ich muß nunmehro hinaus, zur Arbeit, wenn ich nicht –‘

‚Conrade!‘ bat ich erschreckt, ‚Du bist heut zum ersten Mal von dem Bette aufgestanden, und Deine Wunde ist annoch kaum verheilet –‘

‚Es wird nicht besser allhier,‘ erwiderte er; ‚wollt nur, es wäre überstanden; denn der Vater lässet mich nicht ziehen ohn‘ ein scharf Examen, dieweil ich auf die Mensur gegangen. Und was ich ihm zu melden habe, würd’ ihn arg betrüben. Wäre schon das Allerbeste, ich ging ohn’„Ade!“, Christel.‘

Da stund mir mit einem Mal die Nacht wiederum vor Augen, wo er heimlich fortgewollt, und wo mein brünstig Bitten ihn erweichet, also daß er geblieben. Dazumalen war ich noch schier ein Kind, und ich bat den Bruder – ach, heut war er es nicht mehr; ein heiß Schamgefühl hielt mich zurücke, daß ich nicht die Arme noch einmal um seinen Nacken warf. Als er aber wiederum anhub:

‚Es muß sein, Christel, es muß ja sein!‘ und er wieder vor mir stund und meine Hände erfaßte, sagte ich nur:

‚Du magst billig wissen, was Dir tauget, Conrade.‘

‚Christel!‘ rief er und zog mich an sich, ‚Du meinest, ich sei undankbar und schlecht, aber ich suche doch meine Pflichten zu üben; – Du vermagst nicht zu erfassen, welch’ ein Kämpfen in meiner Brust ist!‘

Ich schwieg; denn Solches zu hören, that mir wehe.

‚Woher solltest Du es wissen?‘ fuhr er fort. ‚Wenn Du nur eine Ahnung hättest von dem, so ich gelitten seit Jahren, seit dazumal, Christel, als mir der Vater sagte, daß ich hinfüro ein Fremdling sei zwischen Euch, ein Fremdling, der nicht Vater kennet noch Mutter – ach, wenn Du es ahntest, Du würdest Dich erbarmen. Verrath mich itzo nicht! – Ich ziehe morgen davon, vielleicht auch heut noch; kann nicht reden mit dem Vater, sintemal es nimmer gut gehet –‘

‚Und wohin willst Du, Conrade?‘

Er lachte gar bitter auf.

‚Wohin? Ei nun, gen Helmstädt, hinter meine Bücher; – nur fort, hinaus! Mein Examen will ich machen allda, wie ich dem Vater gelobet. Und dann –‘

‚Und dann?‘ wiederholete ich, ‚und dann, Conrade?‘

Er schwieg.

‚Frage nicht, Christel,‘ sagte er endlich.

Mir aber war es, als gerinne all mein warmes Blut zu Eis.

‚Conrade!‘ schrie ich auf, ‚Du kommst nicht wieder, so Du gegangen sein wirst!‘ Und da waren sie schier hinweg, mein Stolz und meine Scham. ‚Conrade,‘ bat ich flehend und faßte ihn bei der Schulter, ‚sag, daß Du wieder heim kommst! Sag, daß Du nicht auf ewiglich die verlassen willst, so Dich lieb gehabt haben gleichwie ihr eigen Kind! Gelten wir Dir nichts mehr? Kannst Du jede Erinnerung verwischen an das Haus, so Dein Vaterhaus gewesen, jede Erinnerung an die friedvolle, glückliche Zeit, so Du mit uns verlebet?‘

Er trat hastiglich einen Schritt zurück, aber antwortete nicht. Es ward ein banges, langes Schweigen zwischen uns, und ich meinete die Schläge meines eigenen Herzens zu hören, Todtenstill war es im Hause; nur die Lampe knisterte ganz leis allhier im Gemach, und dann scholl draußen ein leichter Frauentritt, eine Hand tastete fein behutsam über das Getäfel der Stubenthür, gleichwie suchend nach dem Griff der Thür, Conradus aber fuhr jach herum, und sein blaß Gesicht färbete sich purpurn.

‚Ich komme, Christel, ich kehre wieder heim dereinst,‘ flüsterte er.

Da flog es in mir empor wie jauchzend Freuen, und meine Hände faßten ungestüm nach den seinen; als ich mich aber umwandte, stund Hedwige unter der Thür, daß es ließ, als wäre die plumpe Wölbung eigens zum Rahmen geschaffen für ihr anmuthig Bild.

‚Ich komme!‘ sagte Conradus abermals, ‚wie vermochtest Du daran zu zweifeln?‘

Nun wußte ich, daß er dermaleinst kommen würde, und dennoch – mir war das Freuen schier vergangen.

War gar früh am andern Morgen, als ich erwachte, und da ich an das Fensterlein trat und in den Garten schauete, gewahrete ich auf dem weißbereiften Laub, so herbstlich die Wege deckte, Tritte, fein und schmal, aber es waren nicht die Tritte eines Frauenfußes. Da sprang ich jählings in meine Kleider und pochte an Conradus Thür – nichts rührete sich darinnen, und als ich in das Gemach trat, in dem annoch das Morgengrauen lag, da fand ich es leer, und nur einen Brief an den Vater schauete ich auf dem Tischlein am Bette liegen; lag auch noch ein Zettel dabei, aber mir waren die Augen gar trüb worden von heißen Thränen. Als ich endlich dennoch zu lesen vermocht, was da geschrieben stund auf dem Zettel, da war es ein Gruß an mich und ein Dank für die Pflege, so ich ihm gethan, darunter aber stund, dreimalen unterstrichen:

‚Auf Wiedersehen, hab’ keine Bange! Dein treuer Bruder Conradus.‘




Der Vater schalt, da er Conradus Flucht vernahm, aber ich merkte doch, daß er ihm nicht zürnete. ‚Es ist einem jungen Manne wohl zu verzeihen, so er aus Eifer und Lernbegier eine schuldige convenance verletzet,‘ sagte er, da die Mutter jammerte. ‚Möge dem Jünglinge auch nicht paßlich gewesen sein, noch eine Auskunft über seine Rauferei geben zu müssen,‘ meinte er sodann, sei besser, er gehe so; ein flüchtig Lächeln verschönte des Vaters ernst Gesicht bei der Erinnerung an die eigne Jugend, auch er, sagte er, habe einmal auf der Mensur gestanden und sei darob hart angelassen worden von seinem Vater, und also habe er auch mit Conradus thun müssen, wären sie noch auf diesen Punkt mitsammen zu reden gekommen.

So war denn Alles gut. In Bälde schrieb auch Conradus, er sei zwar gar matt, aber doch gesund in seinem Musenorte angelangt und habe begonnen, emsiglich das nachzuholen, was er des Siechthums halber versäumet. Wünsche uns Allen ein gar frohes Weihnachtsfest, wie auch er es fröhlich zu verleben hoffe, da er von einem Freunde aus fürnehmer Familie von sächsischem Adel invitiret worden, nach Dresden zu kommen, um die Weihnachtsvacanz dorten zu verleben; er freue sich um so mehr darob, als man ihm in Aussicht gestellet habe, das Komödienspiel bei Hofe mit anzusehen, allwo einige Singspiele, sowie auch deutsche und engelländische Komödien agiret werden sollten.

Wir waren sämbtlich im Gemache meines Vaters versammelt, als er dies Brieflein empfing; Hedwige stund am Fenster und sah hinüber, wo man bei den letzten spärlichen Sonnenblicken noch rüstiglich an dem Komödienhause arbeitete, die Mutter aber, Base Wieschen und ich hatten uns um den Vater geschaaret und verlangeten zu wissen, wie es dem Conrado ergehe.

Das ward eine böse Stunde. Der Vater hieß Alle hinaus gehen bis auf mich; er wolle mir allsogleich eine epistola dictiren, sagte er, an den ungerathenen Sohn; nunmehro mußte ich mich setzen, und des Schreibens gewärtig, hielt ich geduldiglich die Feder in der zitternden Hand, hatte dennoch lange zu warten, ehe er begunnete zu dictiren. Seine linke Hand lag schwer zur Faust geballet auf der Platte des Tischleins, und auf seinem Gesichte stund bös eine Falte zwischen den dichten Brauen.

‚Also!‘ sagte er dann und hub zu dictiren an.

‚Indem ich Dir dieses schreiben lasse, Conrade, ist mein Herze schwer betrübet, dieweil ich Dich auf Wegen gewahre, so Dich weitab führen von dem Ziele, welches Du allein zu verfolgen die Pflicht hast. Ich verbiete Dir hiermit, kraft der Gewalt, so mir über Dich gegeben, Deine Augen auf so leichtfertig Thun zu richten, wie das Komödienspiel es ist; es bringet schier Schaden jeglicher Menschenseele und ist eine Versuchung des Teufels. Ich sage Dir: Die, so sich itzo daran freuen, werden es dereinsten herzlich zu bereuen haben. Dir aber als einem studioso theologiae steht es doppelt schlecht zu Gesichte, Deine Augen auf Solches zu richten, und wär’ es Dir besser, sie würden blinde. als daß sie diese Narrethei mit anschauen. Ich hoffe vielmehr, wenn Du dermaleinst allhiero im Priesterrocke auf der Kanzel stehest, Du werdest alsdann es noch unserem hochfürstlichen Herrn geziemend vorstellen, daß auch Er solch unchristlich Treiben einzuführen gesonnen ist, und sollest ihm sagen 1. Cor. 7, 31.: Denn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_838.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)