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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

und die Sage führt ihre Gründung sogar auf Nachkommen Wittekind’s zurück. Wir finden sie zunächst im Besitze der Grafen von Orlamünde, von welchen sie durch Heirath in den Besitz Egbert des Zweiten, Markgrafen von Meißen, überging und in dessen Kämpfen gegen Kaiser Heinrich den Vierten eine hervorragende Rolle spielte. Nachdem nämlich Egbert sich zum wiederholten Treubruche gegen den Kaiser hatte verleiten lassen, wurde er seiner Güter für verlustig erklärt, und der Kaiser rückte vor die Burg Gleichen, welche Egbert jedoch nicht selbst vertheidigte, da er inzwischen vor Quedlinburg zog, wo sich des Kaisers Gemahlin aufhielt. Es war um die Zeit des Weihnachtsfestes, und der Kaiser beging die Unklugheit, während er vor der Burg lag, einen Theil seiner Edlen zur Feier des Festes nach Hause zu entlassen. Dies benutzte Egbert nun am Weihnachtsabend, als die Sonne sich zum Untergange neigte, das kaiserliche Lager zu überfallen und das Heer des Kaisers unter großen Verlusten zu schlagen. Gleichen blieb im Besitze des rebellischen Markgrafen, welcher aber nach einigen Jahren ermordet wurde.

Später wurde die Burg den Grafen von Tonna zu Lehen gegeben, welche den Namen der Grafen von Gleichen annahmen. Der Berühmteste dieses Geschlechtes ist nun Derjenige, welcher, wie neuere historische Kritiker darzuthun versucht haben, gar nicht existirt haben soll – der wegen seiner Doppelehe vielgenannte Graf Ernst von Gleichen. Die allgemein bekannte, in Wort und Bild verherrlichte Sage ist kurz folgende: Ein Graf von Gleichen gerieth auf dem Kreuzzuge Friedrich’s des Zweiten in die Gefangenschaft der Saracenen und aus dieser befreite ihn Melechsala, die Tochter des Sultans, entfloh mit ihm, ward Christin und auf die Dispensation des Papstes hin Frau des Grafen, der sie mit auf seine Burg Gleichen zu seiner ihm früher schon angetrauten Gemahlin nahm, mit welcher sie, jedenfalls das Wunderbarste an der Sage, im besten Frieden lebte.

Die Wahrheit dieser Geschichte wird besonders deshalb angezweifelt, weil nicht nur in Bezug auf den Namen, wie ganz besonders auch in Bezug auf die Zeitangaben die größten und zum Theil unlösbaren Widersprüche herrschen, sondern auch der zuverlässige Biograph des Landgrafen Ludwig, welcher sämmtliche Theilnehmer des erwähnten Kreuzzuges auf’s genaueste angiebt, von einem Grafen von Gleichen, der an ihm theilgenommen hätte, nichts zu berichten weiß.

Die Veranlassung zur Entstehung dieser Sage gab offenbar ein Leichenstein in dem Erbbegräbniß der Grafen von Gleichen in Erfurt, auf dem einer derselben zwischen zwei Frauen abgebildet ist. Dies ist aber der Graf Sigismund der Erste zwischen seinen zwei Frauen erster und zweiter Ehe, und überdies hat dieser Graf zwei Jahrhunderte später gelebt.

Für die geschichtliche Wahrheit dieser Doppelehe schien auch das Vorhandensein von orientalischen Beutestücken und ganz besonders ein Bild zu sprechen, ein „Contrefait der Saracenin, welche der Graf von Gleichen in der Türkei geheuratet“, welches eine Saracenin darstellt und das sich gegenwärtig auf der Wachsenburg befindet. Das Bild ist aber ein Oelbild, das also, da diese Technik erst aus dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts stammt, nicht in jene Zeit zurückreicht; und überdies hat die Saracenin eine höchst fatale Aehnlichkeit mit dem niederländischen Typus, der deutlich auf den Ursprung des Bildes hindeutet.

Wer von der Burg Gleichen erzählt, muß diese Historie dem allgemeinen Interesse gegenüber eingehender behandeln, als er vor der eigentlichen Historie verantworten kann, zu der wir nun nach kurz zurückkehren.

Im Bruderkriege wurde die Burg, wenngleich vergeblich, durch den Kurfürsten Friedrich belagert. Es ist diese vergebliche Belagerung besonders deshalb auffällig, weil die Burg als befestigter Platz einen bedenklichen Fehler hatte – sie besaß keinen Brunnen; doch wird nicht berichtet, daß ihr während der vielen Kämpfe ein Nachtheil daraus erwachsen wäre.

Aus dieser Zeit des Bruderkrieges ragt als treuer Anhänger des Herzogs Wilhelm der Graf Sigismund der Erste von Gleichen hervor als einer, in dem die Kriegslust und Kriegswuth der Grafen von Gleichen ganz besonders zum Ausdruck kam; das Volk – den eigenen Untergebenen war er übrigens ein gerechter Herr – nannte ihn den Thüringer Teufel; soll er doch eines seiner Schlösser selbst angesteckt haben, damit es dem Feinde nicht als Aufenthalt diene.

1631 starb in Ohrdruff der letzte Gleichen, Johann Ludwig.

Mit der Burg wurden die Grafen von Hatzfeld beliehen und nach dem Erlöschen dieser Linie kam sie 1802 an Preußen, freilich nur als Ruine. Doch selbst dieser drohte noch die völlige Vernichtung – eine Verwendung als Baumaterial, und zwar durch keinen Geringeren, als Napoleon, welcher sie als französische Domäne erklären und auf Abbruch verkaufen ließ! Doch legte sich noch zur rechten Zeit ein benachbarter Fürst in’s Mittel und verhinderte den Vandalismus.

Gegenwärtig befindet sich Gleichen im Besitz der Familie von Müffling, welche sie vom König Friedrich Wilhelm dem Dritten als Geschenk erhielt.




Die Samojeden.

Seit einiger Zeit bereist eine sonderbare Gesellschaft die größeren Städte Deutschlands und lockt überall, wo sie erscheint, Tausende von Neugierigen herbei, welche für billiges Geld Wilde und Heiden sehen wollen. In dem Augenblicke, wo wir diese Zeilen niederschreiben, weilen die „Herrschaften“ in der Kaiserstadt Berlin und haben dort in der „schwedischen Eisbahn“ an der Pionierstraße ihre luftigen Zelte aufgeschlagen. Auf der glatten Fahrbahn treiben sie munter ihre Renthiere an, daß der Schlitten mit den eissportlustigen Herren und Damen um die Wette dahinjagt; das Frostwetter thut der Gesellschaft wohl; denn die sonderbaren Gäste stammen von hohem Norden her; Samojeden sind es.

Dort, wo die steile Grenzwand zwischen Asien und Europa, wo das Uralgebirge seine nördlichsten Ausläufer in die kalten Fluthen des eisbedeckten Polarmeeres versenkt, liegt ihre unwirthliche Heimath. An den Mündungen der Petschora, an den Gestaden des Karischen Meeres und an dem unteren Laufe des Ob lebt ihr Volk, von dem sie sich getrennt haben, um ein Gastspiel in Europa zu geben. Unterthanen des weißen Czaren sind es, deren Sitten und Gebräuche wir heute unsern Lesern zu schildern gedenken.

Der Riese Rußland ist gewaltig groß; nach West und Ost, gen Süd und Nord streckt er seine Arme aus. Viele Völker und viele Länder hält er fest umschlungen, und wenn man ihn schildern will, so muß man von vielen Menschenrassen und von vielen Erdzonen reden.

Im Süden Rußlands da reifen Mais und Weizen, da sprießt der Tabak und da gedeiht die feurige Rebe. Das ist eine der sieben klimatischen Zonen des Czarenreiches. Aber weder diese noch die drei folgenden des Obst- und Ackerbaues sind die Heimath der Samojeden. Hinauf nach Norden müssen wir ziehen, um diese zu finden, hinauf nach dem verlorenen Winkel der Erde, der nordöstlich von der Stadt Archangelsk gelegen ist.

In dieser Gegend, an der äußersten Spitze von Nowaja-Semlja, finden wir die erste klimatische Zone des russischen Reiches – die Zone des Eises. Dort giebt es keine steuerpflichtigen Völker; denn Walrosse, Seehunde, Eisbären und Polarfüchse bilden die einzigen Bewohner des Landes.

Aber unmittelbar an diese öden Strecken grenzt die Sumpfzone oder die Zone des Renthiermooses – weite kahle, baumlose Flächen. Im Winter liegt über denselben das weiße Schneetuch gleichmäßig ausgebreitet, und auch die Kraft des nordischen Sommers vermag kein höheres Pflanzenleben über diese Gefilde zu zaubern. Auf den unabsehbaren Moortriften gedeihen nur die niedrigsten und unscheinbarsten Kinder der Flora – Flechten und Moose. Ist der Grund und Boden feucht, so sprießt auf ihm Moos hervor; ist er steinig und trocken, so bedeckt ihn eine dichte Hülle von Flechten. Solche baumlose Flächen werden von den finnischen Völkern Tuntur oder Tundra genannt, und der Name hat sich mit der Zeit bei den Russen und bei anderen Völkern eingebürgert. Die Tundra ist die vorzüglichste Weide für Renthiere, und sie bildet auch die Heimath des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_095.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)