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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

dort die Waaren, welche er selbst nicht bestellt, aber braucht, billig kaufen kann. Auf diese Weise wird es dem Handwerker mit geringem Capitale möglich, einen kleinen Laden zu halten und größere Bestellungen mit geringem Arbeitspersonal auszuführen. Vor Allem aber fällt die größere Freiheit und Selbstständigkeit in’s Auge, welche die Börse dem kleinen Handwerksmanne gewährt.

Auch den Verfertigern von Handwerkszeug, den Posamentieren und Gerbern ist es erlaubt, ihre Waaren auszustellen. Dagegen hält man mit größter Strenge jede Art von Kaufleuten, selbst Lederhändler von dieser Börse fern. Sie soll nur den Interessen der producirenden Stände dienen.

Ob die Berliner Börse alle die Wirkungen, welche hervorzubringen sie die Tendenz hat, auch im vollsten Maße gebracht hat, weiß ich nicht. Zwei Wirkungen aber treten deutlich hervor. Erstens hat sie das kaufmännische Element im Schuhmacherhandwerke zurückgedrängt. Dafür existiren große Läden und Magazine, welche von Handwerksmeistern gehalten werden. Ob die Lage der für diese Magazine arbeitenden kleinen Handwerker eine bedeutend bessere ist, als diejenige der für kaufmännische Unternehmer wirkenden Genossen, weiß ich nicht. Zweitens wird die Börse nicht blos von den hauptstädtischen Schuhmachern, sondern auch von vielen Handwerksgenossen aus der Provinz, ja sogar aus größerer Entfernung, z. B. von Stettin und Hamburg besucht. Dieser Umstand ist jedenfalls ein deutlicher Beweis, daß sie die wirthschaftliche Lage eines großen Bruchtheiles von Schuhmachern zu heben im Stande ist.

Es herrscht darum auch am Montagmorgen ein lebendiges Treiben in der Sophienstraße, wenn die Thüren noch nicht geöffnet sind und sich draußen die Besucher der Börse, theilweise mit ihren Waaren beladen, an einander vorüberdrängen und immer neue Concurrenten in der stillen Gasse erscheinen. Endlich thut sich die Thür auf, und nun geht es an dem Börsenvorstande vorbei, der in der Halle an einem langen Tische die Eintrittsgebühr erhebt, durch das große Restaurationslocal in den breiten, etwas dunklen Saal. Hier werden auf langen, parallel mit einander laufenden Tischen, sodaß nur schmale Gänge übrig bleiben, die Waaren ausgebreitet. Aber es haben sich so viele Börsenbesucher eingefunden, daß man auch die beiden Gallerien noch zur Ausstellung der Waaren hat benutzen müssen. Kein Plätzchen ist unbenutzt geblieben.

Das Goethe’sche Wort von der „quetschenden Enge“ charakterisirt die Berliner Schuhmacherbörse am besten, wo in schmalen Gängen die Käufer an einander vorüberdrängen und die Verkäufer uns zum Ankauf ermuntern. Es ist in der That ein Jahrmarkt unter Dach und Fach. Hier stehen saubere Leisten, funkelnde Ahlen, vorzügliches Pech, dort in langer Reihe die zierlichsten Kleinkinderschuhe, daneben plebejische, ungewichste, plumpe Schaftstiefel, von denen uns ein Dutzend zu einem unglaublich geringen Preise angeboten wird. Nun kommen wir an einer Stelle vorüber, die kein Vater mit seinem achtjährigen Söhnchen ungestraft betreten würde: denn vor uns erhebt sich, gerade ausgerichtet in Reihe und Glied, ein Regiment nagelneuer, verlockend aussehender Husarenstiefel. Zur Abwechselung eine Ausstellung von Posamentierwaaren, lange Schnüre, elegante Knöpfe und Bänder von eigenthümlicher Farbenzusammenstellung. An einer Stelle verweilen wir etwas länger, denn hier präsentiren sich verführerisch die schmucksten, kleinsten Damenstiefel. An einer anderen eilen wir um so rascher vorüber – denn dort riecht es sehr stark nach Leder.

Wir begeben uns in das Restaurationslocal und suchen im Genusse der tiefen Befriedigung, mit der uns die Wanderung durch die Schuhmacherbörse erfüllt hat, das Phänomen volkswirthschaftlich zu bestimmen. Es ist ein ganz auf der Grundlage der heutigen Erwerbsordnung beruhender eigenthümlicher Versuch, die Lage der Handwerker zu heben. Eine gewisse Aehnlichkeit zeigt eine Veranstaltung der Weberzünfte in den Niederlanden, nämlich die in einigen Städten Flanderns noch heute sichtbaren Tuchhallen, wo die Waaren sämmtlicher Meister ausgestellt und verkauft werden. Kurz, die Berliner Schuhmacherbörse ist die Uebertragung eines kaufmännischen Gedankens auf das moderne Handwerk.

Wir können nur Jedem, der an den mannigfachen Bestrebungen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen Antheil nimmt, empfehlen, die Schuhmacherbörse zu besuchen, und wir legen es den wohlhabenden Freunden der arbeitenden Classen, welchen ihre Wohlhabenheit das Köstlichste, die Freiheit, über ihre Zeit zu verfügen, gewährt, an’s Herz, für die Verbreitung dieser Institution mit Rath und That zu sorgen. Eines scheidet England und Deutschland tief: das ist die hülfsbereite werkthätige Gesinnung, der großartige Gemeingeist der wohlhabenden Classen jenseits des Canals. Wir haben eigentlich nur ein großes Beispiel solch hoher Gesinnung aufzuweisen: Schulze-Delitzsch. Hoffentlich werden bald andere Männer den Spuren des großen Todten folgen.

Wenn heutigen Tages der ökonomische Liberalismus immer mehr Anhänger verliert, dann liegt das zweifellos daran, daß in Deutschland die positive Ergänzung zur Niederreißung überlebter Schranken fehlt, welche in dem heilsamen volkswirthschaftlichen Wirken der oberen Classen für die unteren besteht, nicht in einem Wirken mit Reden und Resolutionen, sondern mit ernster, stiller, andauernder Arbeit. Wo ein solches Vorkämpferthum nicht besteht, da schreit das Volk natürlich nach Reaction und Staatshülfe, wie auch in einem Staate, wo es an dem guten Willen und dem Material für die Durchführung der Selbstverwaltung fehlt, schließlich doch wieder die Bureaukratie trotz aller Anfänge und Declamationen das Heft in die Hände bekommt.

Wilhelm Hasbach.




„Mein Bub’.“

Ich soll „Mein Bub’!“ nicht zu dir sagen,
Weil du schon über zwanzig zählst,
Weil du des Königs Rock getragen
Und nächstens gar zum Reichstag wählst?

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Du meinst es nicht so! – Ich vergebe!

Ich weiß, du bist nicht so gesinnt;
Doch wenn ich hundert Jahre lebe,
Bleibst du mein Bub’, bleibst du mein Kind!

Wohl bist du groß, und doch! – ich sehe

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Dich heute noch wie dazumal,

Als dich nach langem, bitt’rem Wehe
Beschien der erste Sonnenstrahl.
Dein Vater stand von Glanz umflossen,
Als er dich in die Höhe hob,

15
Als er dich froh an’s Herz geschlossen

Und selig rief: „Ein Bub’! Gott Lob!“

Und unsre Anverwandten kamen,
Um dich zu sehn, der Reihe nach.
Ich weiß noch all’ die zarten Namen,

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Die Jedes schmeichelnd zu dir sprach,

Und deine lieben Aeuglein schauten
Verwundert in die Welt hinein.
Und rings erklang’s in Himmelslauten:
„Der liebste, schönste Bub’ ist dein!“

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Sieh her! Kennst du die blonden Haare?

Du warst ein Kind noch, winzig klein:
Da lag auf schwarzbehängter Bahre
Dein holdes, ältstes Schwesterlein.
Entsetzlich war des Vaters Jammer,

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Als man das schöne Kind begrub;

Doch ich schlich still in meine Kammer –
Und weinte leis’ bei meinem Bub’.

Und zwanzig lange Jahre flogen
Vorbei seit jener schlimmen Nacht.

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Ich hab’ gelehrt dich und erzogen,

Hab’ dich zum braven Mann gemacht. –
Stets warst du gut; doch auch nicht selten
Bei einem wilden Bubenstreich –
Ach, deines Vaters Zornesschelten

40
Riß in das Herz mir dornengleich.


Und wenn man bös und schlecht dich nannte,
Dann sah ich schmerzlich himmelwärts.
Ich war die Einz’ge, die dich kannte:
„Mein Bub’ hat doch ein gutes Herz!“ –

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An eins nur will ich dich noch mahnen,

An eine kaum vergang’ne Zeit;
Da zog mit seines Königs Fahnen
Mein lieber Bub’ zum blut’gen Streit.

Dann war’s in einer Mittagsstunde;

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Ein Brief kam an von Freundeshand:

Es lag mit schwerer Todeswunde
Mein lieber Bub’ im fernen Land. –
Ich fand ihn in dem Lazarethe,
Mit Wunden seine Brust bedeckt,

55
Bleich lag er da, auf hartem Bette,

Starr, wie ein Todter hingestreckt.

Ich kann es keinem Menschen sagen,
Was ich gelitten und durchlebt,
Als er die Augen aufgeschlagen,

60
Da rief ich wild: „Mein Bube lebt!“

Dann stürzt ich hin und weinte leise
Und wachte, weinte nächtelang,
Bis mich nach altgewohnter Weise
Ein lieber, theurer Arm umschlang.

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Ich riß mich los aus diesem Arme,

Ich schrie hinaus in Nacht und Wind:
„Barmherz’ger, guter Gott, erbarme
Dich meiner, lasse nur mein Kind!“
Du bist gerettet durch ein Wunder,

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Nun danke Gott, du stolzer Mann,

Daß dich ein Mund noch, ein gesunder:
„Mein Kind, mein Bube“ nennen kann!
 Ludwig Lantz.



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