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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Dagegen ist das Faust-Thema selbst correct festgestellt, und in so weit ist Goethe’s Faust kein Fragment. Die Annahme Mephisto’s, Faust würde nach des Lebens Durchstürmung Ekel empfinden, erweist sich nämlich als eine irrige. Faust gewinnt vielmehr die Erkenntniß, daß es mit diesem unersättlichen Vorwärtsstürmen im Genuß sowohl wie in der Weisheit nichts ist, da der Mensch in den Banden der Endlichkeit lebt, die er nicht von sich abschütteln kann. Goethe’s Faust geräth aber darüber nicht in Verzweiflung, wie der von Chamisso und Klinger, und verfällt damit auch nicht der Hölle – er begnügt sich aber auch nicht mit der bloßen Selbsterkenntniß, wie bei Schink; er setzt vielmehr, wie schon angedeutet, diese Erkenntniß in Thaten um, indem er fortan das menschlich Gegebene und menschlich Erreichbare zum Ziele seines Strebens und Lebens macht, wozu er nicht die Beihülfe des Satans braucht.

Die falsche Annahme, daß Goethe’s Faust nur ein Fragment, und die richtige, daß derselbe mangelhaft durchgeführt sei, haben verschiedene Nachdichtungen von Goethe’s Drama hervorgerufen. Unter ihnen ist die hervorragendste Arbeit wohl die von Ferdinand Stolte.

Stolte gab in den sechsziger Jahren einen vierbändigen „Faust“ heraus, der sich für eine Fortsetzung des ersten Theils der Goethe’schen Dichtung ausgiebt. Stolte meint, nach dem, wie Faust in diesem ersten Theile sich versündigt habe, könne seine Wiedergeburt nur erfolgen durch Schmerz und Reue. Von Sünde und Schuld beladen tritt der Goethe’sche Faust des ersten Theils in den Stolte’schen ein und läutert sich – so zeichnet der Dichter sein Thema – in sich selbst so gründlich, daß er zuletzt im Genuß irdischer Vollendung und Freiheit rein und nach Verdienst den Himmel erlangt. Stolte läßt ihn zum Gründer eines neuen idealen Zukunftsstaates werden, in dem das von Christus verkündete Reich Gottes auf Erden zur Wahrheit wird. Dieser Stolte’sche Faust hat sich allerdings damit eher den Himmel verdient als der Goethe’sche.

Ein Jahr nach Goethe’s Tode schrieb der Dichter Lenau einen „Faust“, ohne damit wesentlich Neues zu bieten. Sein Faust ist ein Sophist, der, in der Entwickelung rückschreitend, wieder der Hölle verfällt.

Auch die anderen Faust-Dichtungen bieten für die Fortentwickelung der Sage kein Interesse, und somit enthält der Goethe’sche Faust, abgesehen von seinen Compositionsfehlern immer doch die höchste und wahre Lösung der Faust-Sage.

Der alte Zauberer und Hexenmeister ist am Ende dieser seiner irdischen Laufbahn zum Beglücker der Menschheit geworden. Anfangs war es der bloße von Uebermuth gestachelte Mensch, der sich, um den Anderen voraus zu sein, die Schranken der Natur zu überwinden und Zauberkünste zu treiben, mit dem Teufel verbunden hatte, und der, als die Folgen seines Pactes an ihn herantraten, der jammernden Verzweiflung verfiel. Dann wird die Magie und der Bund mit dem Satan für ihn nur das Mittel höherer Zwecke. Nicht um zaubern und sich irdische Genüsse verschaffen zu können, sondern aus dem Triebe nach Erkenntniß, nicht aus sinnlichem, sondern aus metaphysischem Drange, oder um mit der erlangten Zaubermacht Gutes schaffen zu können, geht er den Bund mit den Mächten der Unterwelt ein.

Jener alte Faust kommt nicht weiter als zu der Erkenntniß, daß er der Hölle verfallen ist, daß er durch den Bund mit dem Teufel sein Seelenheil verscherzte; der einer späteren Zeit angehörende Faust kam zu der Erkenntniß, daß alles Wissen in die Grenzen der Endlichkeit gebannt ist, daß mit allem Trotze und allem Auflehnen gegen diese Schranken nichts erreicht wird, daß der Mensch sich mit dem soll begnügen, was ihm Gott gegeben, die Freuden des Lebens maßvoll soll genießen, soll glauben und hoffen, streben und wirken.

Für den Faust der alten Sage gab es keine Erlösung. Der Abfall vom Glauben, der Bund mit der Hölle war eine unsühnbare Todsünde. Bete und glaube, lautete die alte Satzung, oder du bist verflucht; die neuere hieß: „Strebe und hoffe und du bist erlöst, auch wenn du geirrt und gefehlt. Und wenn selbst aus der gewollten Gutthat nur Böses entkeimte, selbst der faustische Drang nach oben dich auf die Bahn des Verbrechens drängte, hast du nur dein höheres Selbst dir gerettet, so nimmt die himmlische Barmherzigkeit dich erlösend auf.“

Ein weiteres endliches Stadium der Faust-Sage verlangte dazu noch, daß jene Erkenntniß sich umsetze in die That, daß der Mensch seine Kräfte brauche und nütze im Dienste der Menschheit, daß er nach seinem Theile mitwirke an der Vervollkommnung.

Freilich hört damit Faust auf, ein Halb- oder Ganzgott zu sein, er wird zum in sich begrenzten Menschen. Die endliche Lösung des Räthsels bedingt also die Resignation; aber das Resultat dieser Resignation ist ein wirkliches positives, während jenes Schweifen in die unendliche Ferne immer nur negative Resultate liefert. Es zeigt doch einen Zweck, während jenes zwecklos bleibt.

Damit wird die menschliche Faust-Natur nicht aus der Welt geschafft. Weder aus der kleinen Welt des Menschen, noch aus der großen Welt der Menschheitsgeschichte. Ruhelos treibt sie den Menschen von Ziel zu Ziel, nach Idealen und Wünschen, und wenn das Gewollte und Erstrebte erreicht ist, so läßt es ihn unbefriedigt und treibt ihn weiter zu andern Aufgaben, die auch dann immer nur wieder eine nette Station bilden auf dem nie enden wollenden Wege seines unablässigen Ringens und Strebens. Immer und immer wieder dringt der durch das Leid der Erfahrung nicht gewitzigte Menschengeist vor nach den dunkeln ewig verhüllten Pforten der Wahrheit. Viele gehen auf dem Wege unter, geistig todt und zerbrochen, nur wenige finden sich zurück zur Ruhe und Resignation. Und auch sie, die gelernt haben ihre Zwecke irdisch zu begrenzen, streben doch immer gerade nach solchen Zielen, die für das Maß ihrer individuellen Kraft unerreichbar sind. Auch sie unterliegen dem Fluche ihrer Faust-Natur.

Gleichwohl wird ohne diese nichts Großes geschaffen auf Erden. Alle großen Genies aus den verschiedenen Gebieten der menschlichen Thätigkeit, der Wissenschaft, der Kunst, der Politik, der Industrie tragen diesen Faust’schen Drang in sich, müssen ihn in sich tragen, wenn sie etwas Großes erreichen wollen. Unter dem zermalmenden Tritte eines solchen Faust-Genies gehen oft Tausende menschlicher Existenzen gnadlos zu Grunde, damit es die Bahn frei gewinnt für seine unersättlichen Triebe – aber das blutige Opfer ist nicht vergebens gewesen, es rettete dem Fortschritt der Menschheit Jahrhunderte.

Die Menschheit bedarf dieser großen Faust-Naturen. Sie beschleunigen das Tempo ihrer Geschichte. Jede Krisis ihrer Entwickelung wird durch das Emporsteigen eines großen, weit über alle Andern emporsteigenden Genies gekennzeichnet. Gleicht sie doch selbst in ihrem rastlosen Vorwärtsdrängen, das immer Ziele häuft auf Ziele, einem Faust.




Deutschlands große Industrie-Werkstätten.

Nr. 17. Louis Schönherr und sein Webstuhl.

Was möchte so ein biederer altägyptischer Webermeister für ein verdutztes Gesicht machen, führte man ihn an einen Webstuhl von heute! Wohl ist das mechanische Grundprincip dieser vielleicht ältesten Maschine der Welt durch Jahrtausende dasselbe geblieben, wir sehen auf den alten Wandmalereien am Nil häufig den Weber im Webstuhl abgebildet mit unverkennbarer Andeutung von Schuß und Kette, und das Linnen der Mumien zeigt genau wie das heutige gekreuzte Fadenlage.

Und dennoch würde höchstwahrscheinlich die gesammte ehrsame Leineweberzunft von Theben und Memphis mit „Gunst und Verlaub“ auf und davon laufen, wenn dieselbe einen modernen Bruder jener alten Webstühle erblicken sollte; er frißt das Garn centnerweise, geberdet sich wie toll, regt Tausende von Armen und Aermchen zu gleicher Zeit, und nur die Webstoffe wachsen mit einiger Ruhe und Behaglichkeit aus dem aufgeregten Ungethüm hervor nach der löblichen Tendenz: „Je länger, je lieber.“

Der Verfasser, zwar nicht Fachmann, aber ziemlich heimisch zwischen den Riemenscheiben der mannigfaltigsten Fabriken, nimmt keinen Anstand, den Webstuhl an seiner vieltausendjährigen Entwickelung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 687. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_687.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2024)