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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

droht bereits schwer, aber ahnungslos läßt man die Quelle dieser Gefahr, den ersten Anfang des Uebels, bestehen.

„Sehen Sie sich das nächste Kind an! Es ist ein ‚Ziehkind‘, dürftig, mager, blaß. Zahlreiche Furunkel bedecken seine Haut, die Mundhöhle ist erfüllt von den sogenannten ‚Schwämmchen‘, jenen Pilzwucherungen, welche durch ungenügende Reinigung der Mundhöhle, zumal durch die unglückseligen Gummihütchen, die Nachfolger des einstmaligen ‚Zulp‘, zu entstehen pflegen. Die Krankheit der Mundschleimhaut und die zahlreichen kleinen Abscesse der Kopfhaut haben auch hier bereits zu Drüsenverdickung am Halse geführt. Schon sind diese Depots krankhafter Stoffe, vergrößert und entzündlich gereizt, deutlich, aber ihre Gefahr scheint der ‚Ziehmutter‘, die das Kind natürlich, wie immer, ‚gleich so bekommen hat‘ und ‚alles Mögliche an dasselbe wendet‘, unbekannt zu sein. Das bedauernswerthe kleine Wesen zählt sein Dasein nur noch nach Tagen; wäre frühzeitig sein Leiden erkannt und beachtet worden, so konnte es noch erhalten werden. Nunmehr ist bereits die Drüsenscrophulose in vollem Gange und vollzieht ihren traurigen Weg durch ihre verschiedenen Grade.“

Mehrere Kinder mit Husten und Darmstörungen folgen jetzt. Anscheinend haben sie wenig mit Scrophulose zu thun; und dennoch ist es der Fall.

Das Eine leidet bereits mit größter Wahrscheinlichkeit (und die Section wird es wohl bestätigen) an Drüsenschwellungen in der Nähe der Hauptäste des Luftröhrensystems; ein steter Reiz zum Husten legt den ersten Keim zur Erkrankung der noch so zarten Lungen. Das Andere, das mit Kaffee, Mehltrank und Semmel aufgepäppelte Kind eines leider schon seit Wochen beschäftigungslosen Handarbeiters, hat in Folge dieser ungeeigneten Kost bereits eine Scrophulose der Darmdrüsen. Sein Darmkatarrh, sein angetriebener Leib, seine abgezehrten Arme und Beine, sein elendes Aussehen, das einen seltsamen Contrast zu dem auffallenden Heißhunger bildet – Alles das vereinigt sich zu einem Gesammtbilde sogenannter „Cachexie“, einem Siechthum, welches meist durch Uebergang in Tuberculose oder durch Entkräftung zum Tode führt.

„Liebe Frau!“ ermahnen wir. „Sie dürfen dem Kinde, wenn es erhalten bleiben soll, die bisherige Kost nicht mehr geben, müssen mehlhaltige Nahrung meiden und vorwiegend gute Milch, wohl auch Griessuppen von Fleischbrühe, oder Eiwasser geben.“ Mit diesem schönen Rath und ganz speciellen gedruckten Anweisungen über das gesammte Verhalten, über Bäder und Luftgenuß etc. glauben wir unsere Pflicht erfüllt zu haben. Und zum Ueberfluß geben wir noch einige geeignete Nährmittel, wenigstens für die nächsten Tage genügend, mit. Und doch ist Alles dies, so segensreich schon dieser Fortschritt gegen sonst ist, nur eine flüchtige Wohlthat, nicht bedeutender als ein Tropfen im Meere. Denn die abgehärmte Frau entgegnet uns einfach:

„Das Alles können wir nicht erschwingen und nicht geben! Mein Mann verdient gar nichts.“

Dieses „Non possumus“, dieses starre, eiserne „Unmöglich“ verurtheilt das Kind fortdauernd zu einer ganz unzureichenden und unpassenden Nahrung und damit zu der Abzehrung, die an die Darmdrüsen-Scrophulose sich anschließt.

Der nächste kleine Patient, ein größerer Knabe, wird uns von der Großmutter zugeführt. Sein gedunsenes Gesicht, seine kolbige Nase und wulstige Oberlippe, die gerötheten Augenlider zeigen uns, schon ehe wir die angeschwollenen Drüsen fühlen, den sogenannten „scrophulösen Habitus“. Die kinderreiche Familie, Groß und Klein, Gesunde und Kranke, bewohnen ein einziges Zimmer in einer des Lichtes und der Luft entbehrenden Hofwohnung. Fast alle Kinder der betreffenden Familie sind blaß und leidend, der Knabe am meisten. Hautleiden und Katarrhe der Athmungsorgane lösen sich bei ihm ab; die fortdauernde Neigung dazu liegt wieder in der Erkrankung der Lymphgefäße und -drüsen, die in den Weichen und der Achselhöhle, zu kleinen „Paketen“ vergrößert, sich bemerkbar machen.

Ein zweites Opfer trauriger Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse schließt sich an: ein dreijähriges hübsches blondes Mädchen, dessen blasses, aber anscheinend wohlgenährtes Gesicht kaum eine schwerere Krankheit ahnen läßt. Und doch ist dem so. Einzelne Fingerglieder sind wohl um das Dreifache verdickt, aufgetrieben und geröthet; ebenso das Gelenk eines Fußes, und an dem Schienbein des Unterschenkels befindet sich ein von monatelangem Knochenleiden herrührender Fistelgang. Diese örtlichen Leiden sind theils durch Entfernung kranker Knochentheile bereits in Heilung begriffen, theils steht der chirurgische Eingriff, welcher sicher zur Besserung führt, noch bevor. Das Grundübel – die Scrophulose – bleibt leider, und damit die Schwierigkeit vollkommener Genesung.

Ein kleines, möglichst aufgeputztes Tragekindchen ist der nächste Patient. Obwohl erst ein halbes Jahr alt, mußten ihm doch schon Ohrlöcher gestochen werden, denn es ist ja einmal so Sitte, und es hatte ja Ohrringe (noch dazu unechte) geschenkt bekommen. Sofort hat sich daran, wie bei allen Hautverletzungen von Kindern, die bis dahin noch keine sichtbare Scrophulose darboten, das Auftreten eines Ausschlags der Ohrmuschel und Drüsenverdickung am Halse geschlossen. Gegenwärtig sind die schönen Ohrringe kaum sichtbar in der entstellenden Umgebung. Die redselige Mutter schiebt es natürlich auf das „Impfen“. „Gleich nach dem Impfen bekam das Kind auch auf dem Arme Hautausschläge und die Achseldrüsen schwollen.“ Daß hier nicht das Impfen und der Impfstoff die Schuld tragen, sondern die Körperbeschaffenheit des Kindes, die auf jede, wenn auch kleine Hautwunde mit offenem Auftreten der wohl schon angeborenen Scrophulose antwortet, das sieht natürlich die Frau nicht ein.

Den Schluß unserer poliklinischen Sprechstunde bildet heute ein blutarmes, schmächtiges Schulmädchen von durchsichtiger Haut und flacher Brust. Sein kurzer, trockener Husten, an dem wir es schon wochenlang vergeblich behandeln, beruht auf Lungentuberculose. Die Mutter war als Kind drüsenleidend, der Vater ist im Hospital an Schwindsucht gestorben, und an zwei Kindern aus derselben Familie haben wir bereits die tödtlich verlaufende Miliar-Tuberculose des Gehirns und vieler anderer Organe, die sich an scheinbar ganz geringe Drüsenleiden anschloß, beobachtet. Auch dies zarte Mädchen hat noch deutliche Nackendrüsen; sein Erbtheil, die Scrophulose und die aus ihr hervorgegangene Tuberculose, werden, unseren Bemühungen zum Trotz, das Kind dahinraffen; wir haben es auf die Liste der nächsten Feriencolonie notirt, wenn es dann noch am Leben und hierfür geeignet ist.

Das Stündchen in der Kinderpoliklinik schloß damit ziemlich ernst ab.

„Sie haben sehr Recht,“ äußerte mein Gastfreund. „Ich sehe dieses Leiden doch jetzt von anderem Gesichtspunkte an. Ihre Gallexie verschiedener Scrophuloseformen zeigt wirklich, daß wir hier keine unbedeutenden Krankheiten Einzelner, sondern eine Art Volkskrankheit vor uns haben. Aber als ‚praktischer‘ Arzt möchte ich fragen: Was ist zu thun?“

„Diese Frage rein ärztlich zu beantworten, ist nicht leicht. Wir haben, wie Sie sehen, zunächst allerdings ein Leiden vor uns, das in den verschiedensten Formen, oft scheinbar nur örtlich und unbedeutend, das einzelne Kind betrifft. Allein es ist meist nicht örtlich, sondern ein Allgemeinleiden des Körpers, das nur örtlich zum Ausdruck gelangt. Das Wesentliche bei der Scrophulose ist, daß sie, selbst wenn sie bei dem einzelnen Kinde noch nicht durch Ererbung vorhanden ist, sich aus den unscheinbarsten äußeren Leiden, aus Verdauungsstörungen, ungünstigen Ernährungs- und Wohnungsverhältnissen entwickelt, daß aber die ausgebildeten Drüsenleiden nur die Brücke für Abzehrung oder für Tuberculose bilden. In ununterbrochener Kette schließen sich an einen scheinbar ganz harmlosen Kopfausschlag Furunkel, Drüsenanschwellungen, Entartungen der Drüsen, allgemeiner Körperverfall, Tuberculose an. Unmerklich wird von einer kleinen Körperstelle aus die Gesammtheit des Körpers ergriffen und das Individuum ist verloren. Es ist also, wie schon die wenigen Fälle, die heute zu unserer Beobachtung kamen, zeigen, wenn man sie im Zusammenhange beobachtet, gar nicht ausschließlich ein persönliches Leiden. Ganze Familien, ganze Generationen sind davon befallen. Die Ehen Solcher, die als Kinder ausgesprochen scrophulös waren oder später Tuberculose zeigten, sind nicht nur ein Leichtsinn, sondern ein Verbrechen an der Menschheit. Die Sprößlinge solcher Ehen tragen das Kainszeichen der ererbten Scrophulose und vererben es auf die Enkel. Ganze Geschlechter entarten, wenn nicht sehr günstige Lebensverhältnisse und gesunde Ehen der Nachkommen diese Spuren wieder vertilgen.“

„Also aus diesem Grunde halten Sie es für eine sociale Krankheit?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_007.jpg&oldid=- (Version vom 15.5.2019)