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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


„Nicht nur deshalb, sondern auch weil die Ursachen und die Folgen sociale Bedeutung haben. Die Ursachen fallen, in letzter Linie, wie immer mit der Geldfrage zusammen. Nachlässigkeit, Mangel an Einsicht oder Kenntniß ließen sich schließlich durch Belehrung beseitigen. Aber die thatsächliche Unmöglichkeit, die trefflichsten Rathschläge zu befolgen, beruht nur in der Armuth. Noth und Sorge sind die Eingangspforten für die Scrophulose; über die Schwelle des Hauses Reicher oder selbst gut Situirter wagt sie sich nur verstohlen. In solchem Hause wird sie rasch entdeckt und energisch daraus vertrieben. Desto hartnäckiger setzt sie sich da fest, wo das große sociale Leiden, die Erwerbs- und Mittellosigkeit, hausen. Sociale Gegensätze sind es, die hier die Hauptrolle spielen und dem Streben des Arztes, wenigstens in seinem engeren Kreise zu helfen, fast unübersteigliche Hindernisse bieten. Social ist aber nicht blos die Entstehung, sondern auch die Tragweite der Krankheit, welche jährlich, ganz in aller Stille und ohne das lärmende Aufsehen von Epidemien, Tausende von jugendlichen Individuen vorzeitig dem Gemeinwesen entzieht, Tausende, als hülfsbedürftig und halbinvalid, seiner Unterstützung aufbürdet. Verringerung der Zahl und des Werthes an Arbeits- und Wehrkräften, directe Kosten für den Staat – Alles dies sind die letzten Consequenzen einer derartigen Krankheit, nach welcher die Kinder, wenn sie ihr nicht frühzeitig erliegen, zu untüchtigen, hülfebedürftigen Menschen heranwachsen und Familiengeschlechter entarten.“

„Wird auch gegen dieses mehr schleichende Uebel nicht der ganze Landsturm der öffentlichen Gesundheitspflege aufgeboten, wie bei Cholera, Typhus oder Diphtherie, seine verheerende Wirkung, die sich lautloser vollzieht, verdient trotzdem die vollste Beachtung. Sociale Massenleiden beseitigen, die Armuth aus der Welt schaffen zu wollen, wäre ein thörichtes Beginnen. So lange Menschen auf Erden im ‚Kampfe um’s Dasein‘ ringen, werden solche Gegensätze nicht zu heilen sein. Der Hebel kann nur bei dem Einzelnen, bei dem Individuum, bei der Familie angesetzt werden. Belehrung, Aufklärung und Hülfe im nächsten Kreise, Erkennen und Beseitigen des Uebels in seinem Beginne – das sind nicht nur für jeden Arzt, sondern für jeden gebildeteren Menschenfreund schöne und, in bescheidenen Grenzen, auch lohnende Aufgaben. Mit jedem Kinde, das man bei Zeiten und energisch vor der Scrophulose schützt oder von ihr befreit, erweist man nicht nur diesem, sondern dem Gemeinwesen und den eventuellen Nachkommen eine Wohlthat. Die kleinsten Anfänge ernst zu nehmen, kräftig einzuschreiten und möglichst mit Wort und That belehrend zu wirken, ist bei einer solchen Volkskrankheit das einzig Richtige und das läßt sich nur durch volksthümliche Auseinandersetzung und praktische Hülfe mit geeigneten Nährmitteln anstreben.“

„Sie sehen“ – so schloß ich meine Erörterungen – „daß unsere ‚Kinderpoliklinik‘ mit ihren Grundsätzen und Einrichtungen, wenn auch nur im Kreise ihrer unmittelbaren Umgebung, manches Gute stiften kann, und daß es nur zu wünschen wäre, wenn diese blos durch milde Beiträge erhaltene Anstalt von begüterten Kinderfreunden thatkräftiger unterstützt würde, um durchgreifender nützen zu können. Unsere auf lose Blätter gedruckten ‚Hygienisch-diätetischen Belehrungen‘, die wir den Müttern gratis mitgeben, unsere Nährmittel, die wir vertheilen, alles Dies könnte so viel Gutes stiften; aber auch unsere Anstalt leidet an dem ‚socialen Uebel‘. Unsere Mittel erlauben uns nicht, so zu helfen, wie wir es für gut und nöthig halten.“ – –

Daß es wünschenswerth und lohnend ist, die Bestrebungen des Kampfes gegen die Scrophulose zu unterstützen und das, weß das Herz voll ist, angesichts von Thatsachen auszusprechen, bedurfte wohl keiner Rechtfertigung. Gerade diese Seite der Kinderhygiene liegt sehr im Interesse Aller und verdient bei dem jetzt wissenschaftlich feststehenden Zusammenhange der Tuberculose mit der Scrophulose die vollste Beachtung.

Diejenigen aber, welche dies gelesen und damit im Geiste einer öffentlichen Berathungsstunde unserer Kinderpoliklinik beigewohnt haben, werden gewiß dem Streben dieser und ähnlicher Anstalten dadurch mit erhöhter Theilnahme folgen. Unsere Grundsätze verdienen in weitere Kreise getragen zu werden. Es ist aber nicht genug, ihre Wahrheit zu erkennen. Man muß selbst Hand und Herz offen halten und sie fördern; dann löst man auch eine „sociale Frage“. Dr. L. Fürst (Leipzig).     




Ditta’s Zopf.

Eine Dorfgeschichte aus den Abruzzen. Von Rosenthal-Bonin.

Ditta Ceprano saß vor der Thür ihres grauen dickwandigen Steinhäuschens im Dorfe Palenella am Fuße der waldig finsteren Abruzzen und schälte und spaltete Weidenruthen zur Ausbesserung eines sehr schadhaften großen Korbes, der neben ihr stand.

Es war ein warmer Aprilnachmittag, und heiße Sonne lag auf den Wäldern und dem Marmorfelsen, an welchen die kleine Häuserreihe des Dorfes sich lehnte und in dessen Ritzen Aloes ihre blaugrünen spitzen Blätter entfalteten und wilde Rosen oft einen wahrhaften kleinen Regen von rosa Blüthen und Blumen herabsendeten bis zu den flachen Dächern der dürftigen Wohnstätten, auf welchen Maiskörner und Getreide ausgebreitet lagen.

Die steinige Dorfstraße war leer und still, nur einige Hühner spazierten im Sonnenschein, und in den staubigen Löchern des Weges lagen hier und da kleine schwarze Schweine, alle Viere von sich gestreckt, und schliefen. Ganz Palenella war nach dem Städtchen Palene gegangen, um an einer Procession sich zu betheiligen – nur Ditta Ceprano war zu Hause geblieben.

Das wunderte keinen Menschen, denn dies Mädchen galt für „toll“. Ditta hatte die Hand der reichsten und „vornehmsten“ jungen Männer des ganzen Bezirkes ausgeschlagen, sie besaß Vermögen und arbeitete wie die Armen, sie tanzte nicht Tarantella, sie war nicht lustig, sie wollte keinen Geliebten haben, sie schlug ihren Maulesel nicht, auch wenn er störrig war – jede einzelne dieser Ungeheuerlichkeiten genügte, um in dem einsamen, verödeten, weltabgelegenen, in der Cultur um fünf Jahrhunderte zurückgebliebenen Dorfe den Ruf der Verrücktheit einzutragen. Zu alledem war dies Mädchen noch schön und zwar von einem Aeußeren, das von all dem, was man in der ganzen Provinz bis Neapel zu sehen gewohnt war, das gerade Gegentheil bildete.

Die Frauen hier waren klein, behende, zierlich, mit niedlichen, tiefbraunen Gesichtern, kleinen, scharfen Nasen, aufgeworfenen Lippen, niedrigen, von wildem Kraushaar bis an die Augen umwirrten Stirnen. Stets lustigen Wesens schwatzten und lachten

sie den ganzen Tag, und ihr Charakter setzte sich zusammen aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_008.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2020)