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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die irrende Justiz und ihre Sühne.

Wenn man einmal tiefer hineinblickt in die Blätter, auf denen die Geschichte der Menschheit verzeichnet steht, so findet man darin genugsam Thaten, von denen es den Anschein gewinnt, als ob die Gottheit sie den Menschen nur habe begehen lassen, um ihn von Zeit zu Zeit an seine Ohnmacht zu mahnen und ihm den Traum seiner Gottähnlichkeit, den er nur zu gerne träumt, grausam zu zerstören. Unter diesen Thaten des im Wollen so großen und im Können so kleinen Menschen, welche dem Dunkel seiner Unfehlbarkeit eine schmähliche Niederlage bereiteten, bilden die Opferungen der irrenden Justiz einen wesentlichen Bestandtheil. Die große Ziffer derselben würde eine noch größere werden, wenn die Gräber reden und ihr verschlossenes Geheimniß offenbaren könnten.

In den Zeiten großer religiöser und politischer Umwälzungen erfahren die Justizmorde eine ungewöhnliche Häufung; sie werden da oft zu einer furchtbaren Seuche. Hier ist es dann nicht der Einzelne, der irrt, hier ist es der Irrthum einer ganzen Zeit, unter dessen Banne Ankläger wie Richter stehen. Weinend verhüllt dann der Genius der Gerechtigkeit sein Haupt. Aber auch in friedvollen Zeiten trifft die irrende Hand des Richters oft vernichtend ein schuldloses Einzelleben, und die geschichtliche Ueberlieferung ist leider nicht arm an solchen Documenten menschlichen Irrthums.

Das Gericht von Antwerpen holt den unschuldig verurtheilten Jan von Breuseghem in feierlichem Aufzug aus dem Kerker.
Nach dem Oelgemälde von P. van der Ouderaa.

Schon im Mittelalter waren vielerlei Erzählungen von den Qualen der leidenden Unschuld im Schwange. Die Priester erhitzten die Phantasie der gläubigen Menge mit den Legenden der christlichen Märtyrer, und fahrende Sänger und weise Frauen erzählten wohl von dem Schicksale der armen Pfalzgräfin Genoveva.

In jener Zeit war überhaupt das Gefühl menschlicher Ohnmacht besonders stark entwickelt. Man war noch mehr gewöhnt, seinen Willen dem der Gottheit unterzuordnen. Aus diesem Gefühle heraus entstanden die gerichtlichen Gottesurtheile, bei welchen man die Entscheidung der Schuldfrage dem Himmel und seinem Wunder überließ. Ging der Angeschuldigte mit bloßen Füßen ungebrannt über glühende Pflugscharen oder zog er die Hand unversehrt aus dem Kessel mit kochendem Wasser, so galt dies als ein Freispruch des Himmels. Das war freilich eine bequeme Art, die Verantwortung von sich selbst abzuwälzen und dem Himmel aufzubürden. Oder man ließ den Angeschuldigten durch Leistung eines Reinigungseides sich gleichsam selber freisprechen. Als sich das Verfahren dann änderte und man einen ordentlichen Beweis der Schuld begehrte, da hatte man die richtige Erkenntniß, daß alle Zeugen und Indicien nicht vor Irrthum schützten, wenn nicht das Geständniß des Thäters hinzuträte. Man legte daher allen Nachdruck darauf, ein solches zu gewinnen, und schuf dazu die Folter. Das Mittel versagte nur selten. Das Geständniß war da, aber es war fast ausnahmslos ein falsches. Das Gewissen des Richters war fortan salvirt, aber die Gerechtigkeit lag in Knebeln. So wurde die Folter die Mutter einer Unzahl von Justizmorden. Ohne sie wären die Hexenprocesse, dieser Schandfleck in der deutschen Justiz, entweder nie entstanden oder doch nie zu einem solchen Umfange gediehen.

Friedrich der Große, der Freund Voltaire’s, war es, der in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_012.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2023)