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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

in der mächtigen Schüssel, die nun inmitten des Tisches stand, um den der Bauer, die Bäuerin, die drei Kinder der Beiden, der Knecht und die Mägde saßen, mit spitzen Gabeln und scharfen Zähnen.

Du dummes Dschapei, du solltest froh sein, daß du zu klein warst für den großen Hunger dieser vielen Leute – froh sein, daß dich der Zufall unter die liebevolle Obhut eines gutherzigen Mädchens führte. Und wie bist du so blind für dieses Mitleid, gegen diese Fürsorge so widerspänstig!

„Mein Gott – mein Gott,“ jammerte Nannei, die vor dem Korbe auf den Dielen kauerte, und der schon die Thränen in die Augen kamen; „geh – so sei doch g’scheid – geh, da schau her – geh, so trink doch, g’rad a bisserl, geh – schau, thust mir ja sonst verhungern, du Dschapei du!“

„Es nimmt’s net – es nimmt’s net!“ sagte die alte Baslerin, welche die ganze Zeit über mit aufgestemmten Armen an Nannei’s Seite gestanden war. „Wart’ nur – jetzt will ich die G’schicht’ amal probiren!“

Sie ging auf den Tisch zu und tauchte den mit langer Zunge benetzten Zeigefinger der rechten Hand in das der Schublade entnommene Salzfaß. Als sie zurückkehrte, setzte auch sie sich vor dem Korbe auf den Stubenboden und nahm die Flasche aus Nannei’s Händen. Sie lockerte den Leinenpfropf, wickelte das vorgezogene Ende des milchgetränkten Gewebes um den gesäuerten Finger und steckte diesen mitsammt dem Flaschenkopfe in die von Nannei geöffnete Schnauze des Lammes.

Und siehe – das Dschapei schnappte begierig zu, reckte und dehnte sich in erkennbarer Behaglichkeit, legte die Kehle in den Schooß der alten Baslerin und sog in langen, durstigen Zügen die Milch aus der Flasche. Und während es so lag und trank, da blinzelte es wohl ab und zu nach dem faltigen Gesichte der Alten empor, zumeist aber hingen seine sanften blaugrauen Augen an Nannei’s Antlitz.

Es war auch eine Freude, in dieses jugendfrische, muntere Gesicht zu schauen. Es sah sich an wie ein rothbackiger Apfel, auf dem noch der duftige Thau der kaum erlangten Reife liegt. Diese vollen Lippen wußten nur kindlich keusch zu lächeln, und diese großen braunen Augen blickten so sanft und harmlos, und doch so klar und leuchtend; sie hatten die den Glanz der Augen trübende Thräne noch nicht kennen gelernt, sie kannten nur die Kinderthräne; nie noch hatten sie geweint aus wirklichem, das Herz zerreißendem Leide – denn damals, als die Leute den Vater nach Hause gebracht hatten, zerrissen und zerschunden von den Zacken und Schroffen der Sigerethwand, über die er als Treiber bei einer Gemsjagd herniedergestürzt, da war das Nannei noch ein Kind gewesen, das mit dem Köpfchen kaum an die Tischplatte reichte, das den Tod des Vaters nicht zu fassen wußte, das eben weinte, weil es die Mutter weinen sah.

Und die Enge ihres elterlichen Hauses, die Armuth ihres Lebens, das für Mutter und Tochter mit knapper Mühe nur das sättigende Brod zu bieten wußte – o, diese Dinge störten Nannei’s Laune nicht; sie kannte das nicht anders; sie war das gewöhnt von Jugend auf, war zufriedenen Herzens und wünschte sich kein Besseres. Das kleine Häuschen mit der winzigen Küche und den zwei engen Stübchen schien ihr so traut und heimlich. Was brauchte sie auch mehr als einen Raum, in dem sie an der Seite ihrer Mutter schaffen, essen und schlafen konnte. Und nun – nun waren ja überhaupt die Tage der gröbsten Sorge vorüber. Nun war sie ja groß, nun konnte sie arbeiten, für zwei und drei. Schon im verwichenen Sommer war sie Hüterdirne auf der Regenalm gewesen; da hatte sie keinen Pfennig von ihrem Lohn gebraucht – im Gegentheil, sie hatte von den Trinkgeldern der die Alm besuchenden Sommergäste noch ein Hübsches hinzugespart. Der hungerige Winter hatte freilich von diesem Gelde gezehrt; doch aber mußten ihr – das hatte sie lange schon ausgerechnet – bis sie wieder zu Berge zog, an zwanzig Mark verbleiben. Das war ja schon der Anfang zu einem Vermögen! Und was sollte erst der kommende Sommer bringen! Da sie sich droben am Regen so schicklich angestellt und so tüchtig gehalten, hatte sie jetzt der Bauer trotz ihrer siebzehn Jahre schon als richtige Sennerin eingedingt. Während sie selbst dann droben schaffte, und ihren Lohn sparte, saß die Mutter herunten im Stübchen und strickte und strickte immerzu – das deckte ihre winzigen Bedürfnisse, darüber hinaus fiel sogar ab und zu noch ein Nickelstück in die Sparcasse – viel war es freilich nicht, aber „Regnet’s net, so tröpfelt’s doch!“ pflegte die alte Baslerin zu sagen. Nannei wußte in Gedanken schon gar nicht mehr wohin mit all dem grausam vielen Gelde. Und nun hatte sie auch schon ein Lamm – das sollte ein Schaf werden und gute, schwere Wolle geben, die dann von der Mutter gesponnen und für die Bauern und Burschen zu Wadenstrümpfen verstrickt werden konnte, zwei Mark achtzig Pfennig das Paar – oh – und wer weiß – wenn ihr droben auf der Alm kein Unglück widerfuhr, das heißt, wenn ihr kein Stücklein abstürzte und keines einer Seuche erlag; wenn sie im Herbste heimwärts zog mit ihren Kühen, so jede recht kugelrund und von glänzenden Haaren – wer weiß – das war ja schon öfters dagewesen – vielleicht schenkte ihr dann der Almbauer in seiner ersten Freude, und ihrer Wachsamkeit zum Danke eine Kalbin – eine weiße mit braunen Backen und einem dünnen braunen Striche über den Rücken hin wäre ihr am liebsten gewesen – aus der wurde eine Kuh; und die Milch, welche sie gab, konnte man zur Hälste in der Wirthschaft brauchen, zur Hälfte verkaufen; und die Kühe vermehren sich – dazu sind sie doch eigentlich auf der Welt – da kam also mit der Zeit eine zweite, eine dritte und immer so zu – und – ja, und mit dem Inhalt der Sparbüchse ließ sich dann an das kleine Haus ein kleiner Stall anbauen, und – und – o Gott, o Gott!

Der Nannei ward bei solchen Gedanken ganz wirblig im Kopfe; sie wandte das Gesicht, just als ob es der Blick des so fleißig an der Flasche zullenden Dschapei wäre, der diese hochmüthigen Gedanken in ihr erweckte. Ein Schauer überlief ihren Nacken, und sie hob ihre Hand – es war eine zwar kleine, doch braunrothe, schwielige Hand um von der runden Stirn die blonden Haarbüschel hinwegzustreichen, die sich unter den dicken, das Haupt umschlingenden Zöpfen hervorgestohlen hatten.

„Weißt ’was, Nannei –“ sagte mit einem Male die alte Baslerin, „das Thierl kommt ohne Deiner auch zu sei’m Sach. Geh zu – geh ’nunter zum Almbauer – hol’ Dein’ Ostersegen.“

Von Nannei’s Zügen schwand der nachdenkliche Ausdruck; sie lachte und zeigte dabei ihre weißem regelmäßigen Zähne.

„Gelt, Mutterle, gelt blangt’s Dich [1] halt schon a bißl nach Deine Schunkenknödel? Aber hast Recht –“ einmal noch strich sie dem Dschapei mit der Hand über Kopf und Hals, dann sprang sie auf die Füße und schüttelte die Röcke, „jetzt tummel’ ich mich recht und schau’, daß ich bald wieder daheim bin; und nachher – oh – die sollen Dir aber schmecken, Mutterle!“

Da war sie auch schon draußen zur Thür, und rüstigen Schrittes wanderte sie über die schneebedeckten Wiesen der Fahrstraße zu.

Die Männerleute, die ihr begegneten, grüßten mit freundlichen Worten und blinzelnden Augen; und wenn es ledige Burschen waren, so blieben sie am Wege stehen, wandten die Hälse und blickten der schmucken Erscheinung nach, die so unbekümmert um die ihr folgenden Blicke dahinschritt, im dunkelblauen Röckchen mit der weißen Schürze, im schwarzen Wamse mit dem rothen, grünumränderten Latze, mit dem schmucklosen Hütchen über den blonden Flechten. Was aber half ihnen das Hälsedrehen und Nachgucken? Nannei dachte kaum, daß ihr diese Ehre gelten sollte – und dann – der liebe Herrgott, die Mutter und das kindliche Erinnern an ihren todten Vater füllten ihr junges Herz bis in das letzte Winkelchen aus. Da drinnen hatte bislang nichts anderes Platz – nun höchstens noch ihr kleines Dschapei.

Die Weiberleute, die ihren Weg kreuzten, dankten wohl auf Nannei’s Gruß; hintnach aber zuckten sie die Achseln und verzogen die Mäuler über die Arme da, die kein Ringlein am Finger, nicht das winzigste Kettlein am Halse, nicht einmal Silberknöpfchen in den Ohren, ja nicht einmal ein Stämmchen Adlerflaum am Hute trug. –

Als Nannei so eine Stunde später, das Körbchen mit ihrem Ostersegen am Arme, daheim die Stube betrat, saß die alte Baslerin wieder im Herrgottswinkel vor dem offenen Gebetbuche, das klappernde Strickzeug in Händen – das Dschapei aber lag ruhig in seinem Heu und ließ den Kopf mit geschlossenen Augen über den Rand seines Korbes heraushängen; ab und zu runzelte es die Stirn und zuckte die kärglich behaarten Ohrlappen – zwei deutliche Zeichen von Wohlbefinden.




  1. Sehnst Du Dich.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_048.jpg&oldid=- (Version vom 30.10.2022)