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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 4.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Und da saß sie nun, das Mädchen. Sie hatte hart gearbeitet, jahrelang; sie hatte kein Elternhaus, kein freundliches Mütterlein, keine Aussichten für die Zukunft, und dennoch hob die Jugend, die es als ihr gültiges Recht ansieht, glücklich zu sein, Glück fordern zu dürfen, sie in einen wahren Himmel hinein. Und wie lange würde es dauern, dann kam Tante Ratenow mit der Gartenscheere, und in ihrer entsetzlich realistischen Weise schnitt sie eine Hoffnungsknospe nach der andern ab. Tante Lott mußte sich abwenden und die Theekanne in den Ofen setzen, damit sie der Thränen Herr werden konnte.

„Nun aber, Tantchen, wie geht es hier?“ rief Else, eilig ihren Thee austrinkend; „ich muß hinunter zu Tante Ratenow, zu Moritz und Frieda.“

„Ja, das mußt Du, Kind, ja, ja!“ sagte die alte Dame. „Freilich von Frieda wirst Du nicht viel sehen, sie haben unten Theaterprobe, sie wollen zu Tante Ratenow’s Geburtstag etwas aufführen, aber Moritz wird wohl ein paar Minuten übrig haben.“

„Theaterprobe? Wer denn?“

„Nun, wer? Kind – die Officiere aus der Stadt und die jungen Frauen, und da ist denn allemal Abendbrod hinterher, und vorgestern haben sie sogar getanzt. – Meines Lebens! Else, da höre ich der Tante ihre Schritte, und nun warst Du doch nicht zuerst bei ihr.“

„Nein, das ist Moritz!“ rief Else und war im Nu hinter den Ofen und zog ihre Kleider fest zusammen um die schlanke Gestalt.

Ja, es war Moritz; er wollte nur fragen, ob Tante Lott nicht nach dem Bahnhofe fahren möge, die Kleine zu holen. Frieda habe einmal wieder die halbe Stadt da unten zum Essen. Er ließ sich bei diesen Worten auf den nächsten Stuhl nieder und strich sich die Haare aus der Stirn; eine Bewegung, die er häufig machte, wenn er unangenehme Gedanken verscheuchen wollte.

Da legten sich plötzlich zwei zitternde kleine Hände über seine Augen. „Onkel Moritz, wer bin ich?“ fragte eine liebe, wohlbekannte Stimme, und ein helles, herzerquickendes Lachen folgte.

„Du Wetterhexe!“ rief er und hielt sie fest. Und nun war er aufgesprungen. „Deern, Du bist ja ein ganzer Kerl geworden!“ Sein gutes Gesicht leuchtete förmlich. „Das Futter in D. muß nicht ganz schlecht gewesen sein, wahrhaftig; und gelehrt siehst Du auch nicht aus, Gott sei Dank.“

„Nein, Moritz; ich habe überhaupt keine Anlage dazu. Denke Dir, das hat mir gestern erst der Professor noch einmal versichert,“ sagte sie kleinlaut. „Aber das Examen ging brillant,“ fügte sie tröstend hinzu, als er sie lächelnd betrachtete.

Er sah sie noch immer an. „Tante Lott, man wird alt; habe ich doch das große Fräulein da so“ – er machte eine schaukelnde Bewegung mit den Armen – „und nun?“

„Nicht wahr?“ rief Tante Lott. „Als ich sie so vor mir sah auf einmal, da fiel mir Schiller ein:

Und lieblich in der Jugend Prangen, wie –“

„So ist’s recht, Lott,“ unterbrach sie eine Stimme, „setzt ihr gleich ordentlich Raupen in den Kopf“ Tante Ratenow stand da wie hingezaubert auf der Schwelle, und hinter ihr sah Frieda’s Gesicht hervor, über und über lachend.

„Wir wollen sehen, ob es wahr ist,“ rief sie. „Karoline behauptet, sie hätte die Else hier sprechen hören; wahrhaftig, da ist sie!“

Else war eben wieder aus Tante Ratenow’s Doppelshawl aufgetaucht, den sich die alte Dame beim Passiren des kalten Corridors umzulegen pflegte; nun wurde sie von der jungen Frau stürmisch auf den Mund geküßt: „Moritz, siehst Du, sie kommt wie gerufen; ich habe eben ein Billet von Frau von D. erhalten sie kann nicht mitwirken, sie haben Trauer. Nun sind wir aus aller Noth.“

„Was giebt’s?“ fragte Frau von Ratenow scharf.

„Ich habe keine Zeit, Mamachen, ich muß hinunter; und fragen darfst Du mich auch nicht,“ rief Frieda. „Moritz, bringe die Else ja nachher mit!“ Und im nächsten Augenblick war die zierliche Erscheinung der jungen Frau in dem schweren marinblauen seidenen Costüm hinter der Thür verschwunden.

„Na also, Kind,“ wandte sich Tante Ratenow zu dem jungen Mädchen, „wir haben beschlossen, daß Du vorläufig hier bleibst.“

„O wie gern – wenn es Papa erlaubt,“ war die völlig unbefangene Antwort; „aber dann, Tante –“

„Jawohl, er erlaubt’s,“ unterbrach sie die alte Dame. Es klang eigenthümlich; Tante Lott und Moritz sahen sich an.

„Und damit Du –“ fuhr sie fort.

„Ueber das Weitere sprechen wir morgen,“ fiel ihr Moritz in’s Wort. „Liebes Mutterchen,“ bat er, „mache uns die Freude, iß mit bei uns heute Abend; Frieda würde sehr glücklich sein.“

„Du weißt, Moritz, ich kann das viele Sprechen nicht vertragen“ erwiderte sie.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_053.jpg&oldid=- (Version vom 3.5.2019)