Seite:Die Gartenlaube (1884) 054.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Lieber Gott, es wäre ja viel gemüthlicher, blieben wir allein – aber –. Nun, thue es nur; Tante Lott und Else, macht Euch fertig zu Tisch; Mutter und Tante Lott können sich ja bald beurlauben nach dem Essen, Mutter wird sogar darum ersucht.“

Frau von Ratenow stand kopfschüttelnd auf.

„Mein alter ehrlicher Geburtstag,“ sagte sie, „der soll nun den Namen hergeben für Eure Allotria –. Hole mich ab, Moritz, wenn es so weit ist.“

„Tante Lott,“ begann Else, nachdem sie ein wenig Toilette gemacht und eben eine blaßrosa Schleife aus Herrnhuter Band auf dem einfachen schwarzen Caschmirkleide befestigte, die ihr so gut ließ zu dem klaren Teint und dem aschblonden Haar; „es ist so komisch geworden bei Euch; Tante Ratenow war verstimmt, und Moritz auch –.“

„Ja, aber – ich weiß auch nicht, warum?“ war die ausweichende Antwort. „Bist Du fertig? Es ist die höchste Zeit.“

Else war fertig, und sie gingen mit einander den Corridor entlang und die Treppe hinunter.

„Ach, Else, mein Taschentuch!“ rief Tante Lott, als sie eben die Wohnräume der jungen Ratenow’s betreten wollten. Sie pflegte immer etwas zu vergessen.

„Geh nur immer hinein, Tante, ich hole es!“ rief das Mädchen.

Sie kam schon nach wenigen Minuten die Treppe wieder herunter, dann blieb sie zögernd stehen; nicht weit von sich erblickte sie einen Officier, er hatte sich eben den glänzenden Scheitel gebürstet und den Waffenrock in die Taille gezogen, nun nahm er einen Violinkasten vom Erdboden empor und schickte sich an, in die Thür zu gehen, welche zu der sogenannten Halle führte. In diesem Augenblick sah er auf, und die beiden jungen Menschenkinder schauten sich in die Augen.

Es war so, wie es immer ist, wenn ein Herr einer Dame begegnet; er machte eine tiefe Verbeugung, wobei die Sporen leise zusammenschlugen, öffnete die Thür und ließ das junge Mädchen vorantreten. Die Halle war nur matt erleuchtet, aber Else konnte doch im raschen Durchschreiten die kostbare Einrichtung bewundern, die der große, finstere Raum seit Kurzem erhalten. Das treue Muster eines altdeutschen Prunkzimmers war er geworden mit seiner dunklen Holztäfelung, den prächtig geschnitzten Eichenmöbeln, den kostbaren Stoffen, die in malerischen Falten zur Erde hingen; hier und da blitzten matte Reflexe von kunstvollen Bronzegefäßen und leise bewegten sich die Palmwedel der großen Makart-Bouquets in den kostbaren Vasen, als ihr Fuß auf den weichen Teppichen dahinschritt.

Aus Frieda’s Salon brach eine Fülle von Licht und tönte eifriges Sprechen und Lachen. Als das junge Mädchen in der Thür erschien, verstummte die Unterhaltung einen Augenblick; dann Vorstellung und dann war Else mitten darin in der duftenden, berauschenden Atmosphäre des Salons. Sie flüchtete zu Tante Lott, hinter deren Fauteuil ein leerer Stuhl winkte, und von hier aus sah sie mit großen Kinderaugen auf das nie gekannte bunte Bild. Es war ein Schwirren, ein Sprechen, ein Lachen und Necken; man plauderte von Tagesneuigkeiten des kleinen Kreises, von Avancement und ein bischen chronique scandaleuse, und zwischendurch flog ein Kraftwort von Tante Ratenow. Es war ein Schimmern von blendenden Uniformen, von ausgesuchten, wenn auch einfachen Damentoiletten, und plötzlich hieß es: Bernardi wird spielen!

Der Officier, mit dem Else eingetreten, nahm eine Violine aus dem Kasten und verhandelte eifrig mit Frieda; dann saß sie, die feinen Spitzenmanschetten der Aermel zurückstreifend, am Flügel und schlug ein paar Tacte an, und im selbigen Moment herrschte Todtenstille im Zimmer.

„Bernardi spielt, Else, paß auf!“ raunte Tante Lott dem Mädchen zu; „er spielt hinreißend!“ Und im nächsten Augenblick zitterte unter dem Bogen, den die schlanke Männerhand dort über die Saiten führte, wunderbar weich und süß ein Ton durch das Gemach, und Ton reihte sich an Ton, bald klagend und wehmuthsvoll, als weine die kleine braune Geige, bald im brillanten Staccato, im feurigen, wilden Rhythmus. Und nun senkte er den Bogen.

Else schrak zusammen; es war ihr, als erwache sie aus einem Traume. Ein lautes Beifallklatschen erscholl, und am lautesten applaudirte Tante Ratenow.

„Lieber Bernardi,“ rief sie, ich verstehe zwar nichts von der modernen Musik; Ihr Herr Vater hat mich auf derselben Geige schon zu Thränen gerührt, wenn er ‚Adelaide‘ von Beethoven spielte, aber dem Sohne muß ich doch die Palme reichen.“ Und sie streckte dem jungen Manne herzlich die Rechte hin, die dieser mit tiefer Verbeugung ergriff. Dann flüsterte er mit Frieda, und im nächsten Augenblicke eine zweite Verbeugung gegen die alte Dame machend, setzte er den Bogen an und Beethovens „Adelaide“ zog durch das Gemach.

„Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen: Adelaide, Adelaide!“ flüsterte Tante Lott mit leuchtenden Augen. „O wie schade, schon vorbei! – O, bester Herr Lieutenant Bernardi, wie wundervoll!“ hörte Else sie dann sagen, und als sie aufschaute, stand er vor der Tante, aber seine Blicke flogen über das weiße Blondenhäubchen hinweg zu ihr; es waren dunkle, fast schwermüthige Augen, die dem regelmäßigen Gesichte mit dem kecken schwarzen Schnurrbarte etwas Eigenthümliches verliehen. Seine Cameraden behaupteten, er stamme von Zigeunern ab, daher könne er auch so brillant mit dem „Wimmerholze“ fertig werden.

„Treiben gnädiges Fräulein auch Musik?“ fragte er jetzt, so banal wie möglich, und zog seinen Stuhl zwischen den von Else und Tante Lott.

„Ich singe ein wenig,“ erwiderte sie, und damit waren sie im Gespräche. Tante Lott streute nur manchmal anstandshalber ein Wort ein, sie verstand gar nichts von Musik; sie staunte nur innerlich, was hatte diese kleine Else Alles gelernt! – sie warf ja nur so um sich mit Generalbaß, mit Chopin und Wagner.

Sie saß bei Tische neben ihm; sie wußte gar nicht, wie schnell die Stunden hinflogen. Sie sah weder Moritz’ Lächeln noch Tante Ratenow’s strenge Blicke. „Die vom heutigen Tage,“ sagte die alte Dame zu sich, „die kann man aus dem Wickel herausnehmen und sie an die Tafel setzen, sie wissen schon etwas zu schwatzen.“ Dann erhob sie sich und gab somit das Zeichen zum Aufbruche der Tafel. Als Else ihr die Hand küßte und „gesegnete Mahlzeit!“ wünschte, hielt sie das junge Mädchen am Arme fest.

„Du bringst mich wohl hinüber, Kind,“ und ohne noch Frieda’s Wiederkommen abzuwarten, die im Nebenzimmer beschäftigt war, empfahl sie sich, wie sie es nannte: auf Französisch, das heißt sie verließ unbemerkt durch Moritz’ Stube die Gesellschaft.

„So, Else,“ sagte sie in ihrem behaglichen Zimmer, „das wäre ’mal wieder abgethan. Daß Gott erbarme, können diese jungen Frauen schwatzen! Dir ist übrigens die Zunge auch g’rad’ nicht angewachsen; hast Du Dich amüsirt?“

„O Tante!“ Das junge Mädchen war purpurroth geworden.

„Das einzige Gescheidte war noch, daß Bernardi spielte,“ meinte Frau von Ratenow, ohne das Erröthen zu bemerken. „Klingle nach der Jungfer, Else, sie mag mir frisch Wasser bringen, und dann kannst Du gehen; lege Dich schlafen, Kind, morgen früh haben wir zusammen zu reden.“

„Else, wo bleibst Du?“ rief draußen Frieda’s Stimme.

„Na, dann meinetwegen!“ murmelte die alte Dame. Und als Frieda im nächsten Momente im Zimmer stand, winkte sie Else hastig, zu gehen.

„Ich glaube gar,“ sagte die junge Frau draußen, „Mama wollte Dich wie ein kleines Kind zu Bette schicken. Rasch komm’, Du mußt Deine Rolle heute noch lesen, nachher tanzen wir.“

Es war längst Mitternacht vorüber, als Else die Treppe hinaufging. Sie sah noch einmal über das geschnitzte Geländer in den Flur hinunter, wo sich die Gesellschaft zum Heimwege in Kapuzen und Mäntel wickelte; da stand Bernardi mitten unter ihnen und grüßte hinauf. „Gute Nacht!“ rief sie, wie ein fröhliches Kind. Dann saß sie noch lange auf Tante Lottens Bett, und sie erzählte ihr von der Pension, von Schwester Beate und von allem Möglichen, sogar von der verstorbenen Mieze sprachen sie. Es war ja auch gleichgültig, von was sie redete, denn schlafen, schlafen konnle sie heute noch lange nicht.




Am folgenden Morgen regnete es in Strömen, es rauschte und rieselte über die Dächer, es gluckste und murmelte in den Dachrinnen, und die halbentlaubten Aeste bogen sich unter dem kalten Herbstwinde ächzend hin und wider. Diese naßkalte frostige

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_054.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2020)