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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

setzten die Cosentiner seinen Leichnam wie den eines Heiligen in dem Dome bei, und Manfred’s, des Sohnes Friedrich’s, Gebeine ließ der Erzbischof von Cosenza bei Benevento ausgraben und am Lixisflusse in alle Winde zerstreuen. Dennoch hatte die Sache der Hohenstaufen in Cosenza viele Anhänger, und der Papst zählte in Zukunft hier nur wenige Freunde. Seit 1340 wohnten auf den calabrischen Bergen, in Cosenza selbst und in den nahen Casali nicht wenige Waldenser, die hier Sicherheit und Frieden gesucht hatten. Diese gewannen nach Luther’s Auftreten in Deutschland ganz bedeutend an Macht und Ansehen, und der Lutherischen Lehre neigten sich viele der angesehensten Cosentiner Familien zu. So schickten denn die Waldenser Cosenzas Sendboten nach Genf zu Calvin, um „gewisseren Grund der neuen Lehre“ zu erfahren, und baten gleichzeitig um Lehrer. Diese kamen, mit ihnen aber auch der römische Schrecken. Ein entsetzliches Morden begann. Es genügt, zu erwähnen, daß der neue Glaube gründlich ausgerottet wurde, aber gleichzeitig füllten sich die Wälder mit Heimathlosen, die, da ihnen nichts Anderes übrig blieb, zum Räuberhandwerke griffen, und seit jener Zeit hat der Brigantaggio, der hauptsächlich einer ungebändigten Liebe zur Freiheit entsprang, nie mehr aufgehört und bildete bis vor zehn Jahren eine wahre Geißel des unglücklichen Landes.

Die Geschichte Cosenzas, welche starke Bände füllt, ist eine der interessantesten der Welt; ich habe hier nur unwesentliche Andeutungen machen können, doch zieht sich durch dieselbe als hellleuchtender Hauptgedanke die wärmste Vaterlandsliebe, die glühendste Liebe zur Freiheit, sie wirkte bestimmend auf das Handeln des Volkes, das trotz allen unsäglichen Elends, das ihm Menschen und Natur bereiteten, sich doch nicht zu Boden werfen ließ, sondern kräftig und entschlossen in die Zukunft sieht und eine schöne Zukunft mit Recht erhofft.

Als ich am Abende durch die Straßen der Stadt nach dem Hause des Gastfreundes zurückkehrte, erfreute ich mich der unzähligen reizenden Bilder des Friedens allüberall: heitere schwarzäugige Kindergesichter zwischen rothblühenden Nelken und buschigem Basilicum über die Treppenbrüstungen gelehnt, Gruppen von Maulthieren, Pferden und Eseln, von braunen kecken Burschen und stämmigen Männern, oft in das landesübliche Schaffell gekleidet, umstanden, spindeldrehende Frauen oder Mädchen, die mit großen Krügen von der Fontane kamen, eine Zigeunerbande malerisch hingelagert auf die breiten Treppenstufen der geschwärzten Taverna; die Schwalben flogen fröhlich zwitschernd um die Giebel der Häuser – nichts erinnerte mehr an die Ströme Blutes, die hier durch die Jahrhunderte geflossen waren.

Die Sonne sank hinter dem Schloßhügel hinab und tiefes Roth legte sich auf die ragenden Gipfel der majestätischen Sila. Abendroth! Mag es dem armen Lande einen schönen Tag verheißen!




Doctor Barnardo.


Als wir vor Kurzem den Artikel über den Knabenhort in München veröffentlichten, da konnten wir die freudige Thatsache wahrnehmen, daß eine ernste Mahnung an die Pflichten der Besitzenden und Gebildeten in unserem Volke nicht ohne Widerhall verklingt. An vielen Orten wurde der Wunsch rege, ähnliche Anstalten ins Leben zu rufen, und die Zuschriften, die uns zugegangen sind, lassen hoffen, daß dem Wunsch auch die That folgen wird. Wir haben aber dabei entdecken müssen, daß auch in den Herzen der Besten ein tückischer Feind wohnt, der das Gedeihen der guten Werke zu hintertreiben droht. Es ist der Kleinmuth, der Mangel an Selbstvertrauen, der angesichts der Größe unserer socialen Uebelstände daran zweifelt, daß die Arbeit eines einzelnen Mannes oder eines kleinen Vereins nennenswerthe Erfolge erzielen kann. Wir erachten es darum für unsere Pflicht, das Unzutreffende dieses Einwandes zu beleuchten, und geben zu diesem Zwecke das nachstehende Bild einer großartigen menschenfreundlichen Thätigkeit eines einzigen Mannes, der unter weit schwierigeren Umständen die wunderbarsten Erfolge erzielt hat.




Wir führen unsere Leser in die Proletarierviertel der Millionenstadt London ein, in welchen die Uebervölkerung und Arbeitslosigkeit ihre verderblichsten Früchte tragen. Das unheimliche Bild, welches sich hier unseren Augen darbietet, ist erst vor Kurzem unter dem Namen „Horrible London“ auch in Deutschland bekannt geworden, seitdem G. R. Sims in diese dunklen Winkel mit greller Fackel geleuchtet hat.

Hier lebt eine Masse erbärmlicher, halb verhungerter und verwahrloster Menschen in verfallenen Spelunken mit zerbrochenen Treppen, Fenstern, Dächern, im furchtbarsten Schmutze, hier schlafen und arbeiten die „Enterbten“ der Gesellschaft oft bis zu neun Personen in einem kleinen Raume zusammengedrängt, hier hausen die gemeinsten Verbrecher, welche ganze Gegenden so unsicher machen, daß es Straßen giebt, in welche kein Polizeidiener hineinzugehen wagt – er käme eben lebendig nicht wieder heraus!

Freilich beschränken sich diese Uebelstände nur auf einige Theile Londons, aber mit der Zunahme der Bevölkerung wächst die Zahl des Proletariats, und mit ihm schreitet die Verwilderung der Massen vorwärts. An ihrem Stumpfsinn und ihrer moralischen Versumpfung scheitert oft selbst die wohlorganisirte Hilfe der Staatsregierung und der Geistlichkeit, denn es ist fast unmöglich, diese „Elenden“ zu einem geordneten Lebenswandel zu bekehren.

Ist es unter solchen Umständen menschenmöglich, daß ein „Einzelner“ hier Hülfe bringe?

Und doch, doch! Es ist ein Einzelner! der greift helfend ein; der hat sich an die „Kinderwelt“ gemacht und rettet Hunderte und Tausende der kleinen hülflosen Unglücklichen aus den Klauen des Elends, des Hungers und des Verbrechens. Er, ein „Einzelner“, ist es, der die verlassenen Kinder sucht, aufnimmt, beschützt, kleidet, wärmt, ernährt, unterrichtet und sie bewahrt vor den Gefahren und Versuchungen der allerbittersten Noth, der sie erlöst von dem ansteckenden bösen Beispiele des Diebstahls, der Trunkenheit, der gröbsten Unsittlichkeit und sie mit wahrer Vaterliebe auf gute Wege führt.

Dieser Eine, dieser große und gute Mann ist Doctor Barnardo. Aehnlich wie zu seiner Zeit A. H. Francke, der nur im Gottvertrauen aus milden Beiträgen sein großes Waisenhaus in Halle zu Stande brachte, hat auch Dr. Barnardo keine Mühe für die Riesenarbeit gescheut, die er unternommen.

Mit unermüdlicher Energie und Geduld weiß er seine Mitmenschen zu den nöthigen Beiträgen für seine kleine Schaar zu bewegen, denn Geld braucht er, viel Geld! Er nimmt sie auf, Knaben und Mädchen, gleichviel ob die Kindergesichter mit klaren Augen ein fröhliches Gedeihen versprechen, oder ob das Elend bereits Krankheit, Verkrüppelung, körperliche oder moralische Schäden hervorgebracht hat – er will sie Alle retten, Alle, so weit er kann. Und er wartet nicht, bis sie kommen und um Aufnahme bitten (was auch nicht selten geschieht), er sucht sie selbst zusammen aus den Spelunken der Sünde, der tiefsten Gesunkenheit; er sucht sie Nachts, oft bei Kälte und Regen, auf den Straßen und in allen möglichen Schlupfwinkeln, in welchen die gänzlich verlassenen Kleinen sich verkrochen haben, hinter Balken und Brettern, unter Böten, Brücken und Bänken, in Karren, Kohlenbehältern und den undenklichsten, verstecktesten Plätzchen. Da stecken oft mehrere zusammen, in kalten Nächten dicht an einander kauernd, um am Morgen, blau gefroren, ihr Tagewerk wieder aufzunehmen, das heißt sich ohne alle Hülfsmittel am Leben zu erhalten. Die Meisten folgen Dr. Barnardo gern, Viele haben schon von ihm gehört als einem rettenden Erlöser; aber manche der kleinen Burschen lieben ihr freies Bummelleben, besonders im Sommer, und fürchten die Disciplin einer „Anstalt“ so sehr, daß er auch noch die Mühe hat, ihnen die Scheu auszutreiben und sie zu ihrem Heile zu überreden. Jeder Fall wird sorgfältig untersucht, und da findet sich, daß die Mehrzahl der kleinen Dulder ihre Eltern gar nicht gekannt haben, „Dunno!“ (eine Zusammenziehung von „do not know“, ich weiß nicht!) ist die gewöhnlichste Antwort; oder es heißt: Vater todt, Mutter krank; oder: Vater im Gefängniß, Mutter eben gestorben etc.,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_082.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2020)