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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Ich bitte nur um die eine Rücksicht, Frieda,“ begann er nochmals, „laß das Mädchen nicht ahnen, weshalb dieses Arrangement getroffen wird. Das Weitere findet sich.“

Er hatte sich erhoben, nahm Mütze und Reitpeitsche vom nächsten Stuhl und schritt hinaus. In demselben Moment schlug die junge Frau die Hände vor das Gesicht und brach in Weinen aus.

„O Tante Lott, ich bin so namenlos unglücklich!“

Die gute alte Dame stand dieser Scene verständnißlos gegenüber. „Um Gotteswillen, Frieda, was ist Dir?“

„Er liebt mich nicht mehr!“ schluchzte die schöne Frau und warf sich auf den nächsten Fauteuil; „ich weiß es zu genau, er liebt mich nicht mehr!“

„Herr Gott, Du bist doch nicht eifer – – ?“ Das ganze Wort wollte nicht über die Lippen der erschrockenen alten Jungfer.

„Und nun geht er zu Mama – zu Mama, die mich immer wie ein unvernünftiges Kind behandelt!“

Sie fuhr plötzlich empor; die blauen Vorhänge hatten sich getheilt und Frau von Ratenow trat in ihrer ganzen Stattlichkeit über die Schwelle des Zimmers.

„Nun, Frieda? Ich höre eben von Moritz, daß Dir nicht ganz wohl ist,“ begann sie, sich neben die Weinende setzend.

Frieda stammelte etwas von Kopfschmerzen. „Natürlich!“ Die alte Frau faßte nach ihrer Hand. „Es, wird Dir zu viel, den ganzen Tag mit dem Kindertrubel; ich kenne das ja, heutzutage sind die Nerven Mode. Ich will Dir aber einen Vorschlag machen: Du schickst die kleinen Mädchen in die Schule, es ist dann eine himmlische Ruhe im Hause, mein Töchterchen, und Du brauchst Dich nicht mehr zu ärgern über eine Erzieherin. Wie?“

Die junge Frau schnellte von ihrem Sessel aus der liegenden Stellung empor, aber sie kam nicht zum Antworten.

„Else Hegebach bleibt meine Gesellschafterin im Hause, liebes Kind,“, sprach die alte Dame weiter mit erhobener Stimme, „und als solche werde ich sie zu schützen wissen vor jeder Kränkung, Frieda!“

Frieda war ein wenig blaß geworden. „So habe ich es nicht gemeint!“ sagte sie, schon wieder weinend.

„Wo ist Else?“ fragte die Schwiegermutter.

„Im Kinderzimmer; sie ertheilt eben Rechenstunde,“ war die im leisen Tone gegebene Antwort.

„Ich hoffe, Euch heute Abend zum Thee drüben zu sehen,“ fuhr Frau von Ratenow fort. „Tante Lott, bitte, pünktlich! Der Bennewitzer hat sich angemeldet.“

„Das dritte Mal seit vierzehn Tagen!“ bemerkte Frieda und erhob sich. „Früher kam er nie, oder doch sehr selten.“

„Allerdings! Er hatte jahrelang eine kränkliche Frau und bis jetzt noch tiefe Trauer. – Habe ich das Vergnügen, Euch heute Abend zu sehen?“ fragte sie noch einmal.

„Ich bedaure lebhaft, Mamachen; wir sind zum Thee bei Frau von Z.“

„Else auch?“

„Sie war gebeten, sagte aber ab.“

„Na, hoffentlich nicht bei mir!“ Und die alte Dame nickte äußerst freundlich ihrer Schwiegertochter zu. „Adieu, mein süßes Kind, schicke die Kleinen ein bischen, wenn es Dir recht ist.“

„Siehst Du, Tantchen, so ist die Mama immer!“ klagte die junge Frau. „Jeder Mensch wird mir doch Recht geben darin: wenn Else es einmal unternommen hat, die Kinder zu erziehen, soll sie es auch ganz thun; ich bin die Letzte, die etwas Uebermäßiges von ihr verlangen würde. Wenn die Geduld einmal reißt, es ist kein Wunder. Ich denke nun eben, die kleinen Mädchen lernen, da kommt Moritz und sagt: ‚Elschen, wir gehen zum Subscriptionsball nach Berlin, Mutter will Dir ein Kleid schenken!‘ Wo soll da Andacht und Ernst herkommen?“

„Ich glaube, Else wollte Eure Freundlichkeit gar nicht annehmen, Frieda,“ vertheidigte die geängstigte alte Dame ihren Schützling. Sie mußte aber noch ein langes Lamento anhören, Frieda war ja so sehr in allen ihren Rechten gekränkt; sie bekam es sogar fertig, bei Tische ihr Wort wahr zu machen und nicht eine Silbe zu sprechen.

So war mit einem Male das Gewitter heraufgezogen, das schon lange an Moritz’ Ehehimmel gedroht; eine schwüle Luft wehte im Hause trotz des klaren Frostwetters draußen. Else merkte es gar nicht; sie hatte zur Rechten und zur Linken je eins der kleinen Mädchen, und sie war hinreichend beschäftigt, die Fragen der Kinder zu beantworten. Moritz hatte anfänglich nicht gewollt, daß die Kinder mit am Tische säßen, aber Else hatte gemeint, das müsse so sein, und so geschah es denn auch zum größten Jubel der Kleinen.

Ja freilich, sie sah elend aus, und still war sie auch; das machte das Kämpfen mit einem stolzen, gekränkten Herzen, das ewige stumme Fragen „warum ich?“ Das machten die schlaflosen Nächte und die peinigende Sehnsucht nach den verlorenen goldenen Tagen; sie kam sich vor wie eine Paria unter den Anderen, trostlos und ausgestoßen, und nur, weil sie – arm! Nicht einmal weinen konnte sie mit den braunen Augen, wie es im Liede heißt vom „armen Mägdelein“. Ach ja, es gab noch Vieles in der Welt, was das Leben lebenswerth macht; Hunderte und aber Hunderte theilten ihr Loos und waren schließlich ruhig und zufrieden bei harter Arbeit – ohne Glück. Aber sie Alle waren einen Weg gegangen durch Nesseln und Dornen, um so weit zu kommen; ein junges krankes, glücksbedürftiges Herz läßt sich nicht in ein paar Tagen in den Schlaf des Vergessens wiegen, dazu gehören Jahre, lange Jahre!

Abends war das Zimmer der alten Frau von Ratenow das gemüthlichste im ganzen Hause; der Kachelofen bullerte und fauchte in allen Tonarten, die schweren Gardinen hingen zusammengezogen vor den Fenstern, jedes Zuglüftchen abhaltend, und legten sich noch in stolzer Schleppe auf den dicken weichen Teppich; der Lampenschein spiegelte sich in Silber und Krystall auf schneeweißem Damast-Tischtuch, und Tante Lott und die Bewohnerin saßen auf dem Sopha; Letztere den weißen Strickstrumpf in den Händen. Else, mit einer feinen Arbeit beschäftigt, saß neben dem „stummen Diener“, auf welchem der silberne Kessel dampfte; sie war im dunklen Hauskleide und trug ein zierlich gesticktes Schürzchen. Der Bennewitzer wurde erwartet.

Else waren diese Stunden mit dem alten Herrn nahezu entsetzlich, sie hatte zu gemischte Gefühle dabei. Seitdem der Vater neulich zu ihr die ersten freundlichen Worte gesprochen, stand ihr Kindesherz in voller Gluth für den mürrischen Mann. Sie wußte, daß er nicht recht handelte dem Vetter gegenüber, aber er hatte gesagt, er thue es ihretwegen, und das hob Alles auf in den Augen des Mädchens, seine Launen, seinen Eigensinn, sein geringes Interesse für sie. Er war längst wieder genau so unzugänglich ihr gegenüber wie früher, aber sie hatte doch einmal einen Einblick in sein verbittertes Gemüth gethan, nun war ihr kein Wort zu hart, keine Stimmung zu finster, es lag ja nur die Schlacke des Kummers und der Einsamkeit über dem Golde im Herzen des alten Mannes; er war ja doch ihr Papa, der einzige Mensch, an dem sie ein Recht hatte, ein heiliges Anrecht.

Der Bennewitzer war ihr peinlich darum; er sprach bis jetzt zwar nie während seiner Besuche in der Burg über den Vater, aber trotzdem – sie wußte, wie er über ihn dachte und wie Tante Ratenow über ihn dachte, und das that ihr unsäglich weh. Tante Ratenow lobte überdies den Bennewitzer so ungemein; Tante Ratenow hatte immer so stark ausgesprochene Sympathien und Antipathien, und man durfte nichts dagegen einwenden, die alte Dame konnte dann so laut ihre Stimme erheben. „Gut oder Schlecht, dazwischen giebt’s nichts!“ pflegte sie zu sagen. Etwas Halbes existirte nicht für sie, wie es auch ihrem ganzen Charakter fremd war. Bernardi’s Name war nie wieder über ihre Lippen gekommen, die Sache war abgethan, ein für allemal; je weniger man davon sprach, desto besser! Eine Wunde müsse sich ausbluten, meinte sie, aber das könne stillschweigend geschehen, ohne daß die Leute etwas davon merkten.

„Else,“ begann sie mit ihrer tiefen Stimme – sie schob die Brille zurück und ließ das Zeitungsblatt sinken – „Du kannst mir das mal vorlesen; mit meinen Augen wird es täglich schlechter. Ich weiß nicht, Lottchen, wie Du Deine so gut conservirt hast bei dem ewigen Lesen. Es ist mir ein wahrer Trost, daß Moritz sich meinen Bitten gefügt hat und den Unterricht der Kinder Dir abnahm, Else; ich bin wirklich weder im Stande, Morgens die Zeitung zu lesen, noch einen Brief zu schreiben ohne gründliche Krakelfüße.“

Else ergriff das Blatt. „Wenn ich nur die Beruhigung hätte, liebe Tante, daß Moritz und Frieda nicht unzufrieden mit meinen Leistungen als Lehrerin waren.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_126.jpg&oldid=- (Version vom 25.8.2020)