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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Sie ging, sie lief förmlich. Es war doch wenigstens frische Luft; und vor ihr lag das weite, weite Land, und noch trug sie ein Hoffen in der Brust, noch fühlte sie Kraft, es gegen die ganze Welt zu vertheidigen. Sie dachte an das kleine stille Dörfchen in Thüringen, an das schmucke Kirchlein und an die Leute, die so friedlich unter einander lebten; sie sah Schwester Beaten’s gutes Gesicht unter dem kleinen Herrnhütermützchen so deutlich vor sich – es gab doch noch einen Fleck, wohin die Stürme des Lebens nicht reichten.

Sie war dann doch zu Hause, ehe sie sich’s versah; es war ihr ganz recht, daß der Diener sagte, gnädige Frau und Fräulein seien ausgegangen. Sie begann die Treppen hinauf zu schreiten, dann wandte sie sich plötzlich um.

„Wo ist der Herr Baron?“

„In seiner Stube, gnädiges Fräulein.“

Sie kam wieder herunter und klopfte an eine Thür.

„Herein!“ rief es.

„Moritz, darf ich eintreten?“

„Aber Else, ich bitte Dich – natürlich!“

„Ich wollte Dich etwas fragen, Moritz.“

„Gern, Else. Aber komm, wir wollen in den Garten.“

Sie sah ihn verwundert an, er war so eigenthümlich, so wie verlegen.

„Wie Du willst, Moritz.“

Sie gingen durch den Gartensaal und wanderten den sonnigen Mittelweg auf und ab. Es roch wundersüß nach Veilchen und über ihnen zirpten die Staarw in hellen langgezogenen Tönen; es war ein köstliches Fleckchen Erde, dieser alte heimliche Burggarten.

Else nahm plötzlich den einfachen grünen Fächer vor die Augen.

„Moritz,“ begann sie, „habe ich Dir etwas gethan?“

„Nein, mein altes gutes Kind!“ erwiderte er weich.

„Ich dachte es; Du bist so anders zu mir seit einiger Zeit.“

Er sah sie an, wie sie mit gesenkten Augen neben ihm ging. Was war aus dem frischen reizenden Mädchen geworden!

„Moritz!“ Es war der alte kindliche Ton. „Muß ich das thun, was sie Alle wollen; muß ich es?“

„Müssen? Nein, Else, aber es wäre vielleicht gut, wenn Du es wolltest.“

„Ich kann nicht, Moritz.“

„Else!“ Er blieb stehen und faßte nach ihrer Hand. „Denke nicht an Bernardi mehr,“ sagte er in seiner treuherzigen guten Art, „warte nicht auf ihn; sieh unsereins vergißt so etwas. Du mußt nicht glauben, daß er sich so abgrämt, wie Du, Kleine; Du kennst das Leben noch nicht.“

Sie sah ihn wieder an mit den traurigen Augen und eine feine Röthe stieg in das blasse Gesicht.

„Ich denke noch oft an ihn, Moritz, das kommt ganz ohne daß ich es will; aber gehofft habe ich vom ersten Augenblick an nicht mehr; ich weiß zu gut, daß ein Abgrund, so ein großer, großer Abgrund zwischen uns ist. Ich meine nur, ob ich – aber Du verstehst mich wohl nicht, Moritz? Ich habe meinen Onkel nicht ein bischen lieb, nicht ein bischen – so, wie man den lieb haben soll – der –“

Sie stotterte, brach ab und wie in Purpurgluth getaucht stand sie vor ihm, und langsam und schwer rannen die Thränen unter den gesenkten Wimpern hervor.

Freilich verstand er sie, aber durfte er es denn? Was sollte aus ihr werden? Er konnte ihr ja nicht einmal ein weiteres Asyl bieten, wenn sie den Bennewitzer refüsirte. Seine Mutter würde ihr bitter zürnen, und Frieda? Sein häusliches Glück stand auf dem Spiele – es klang lächerlich, aber die kleine Frau war eifersüchtig, wirklich und wahrhaftig, und sie zeigte es bei jeder Gelegenheit. Else zwar ahnte es nicht in ihrem reinen Kindersinn, und sie sollte es auch nicht wissen.

Er schwieg noch immer.

„Else,“ sagte er endlich – und er fühlte, wie banal es war, was er sprach – „mach’ Dir das Leben nicht so furchtbar schwer; sieh einmal“ – und er begann wieder zu wandern, die Hände auf dem Rücken, „man wird älter und ruhiger, man denkt so ganz anders in späteren Jahren über Herzensgeschichten und Neigungsheirathen – ja, was wollte ich gleich sagen – Elschen, ich würde es mir doch noch überlegen.“

Sie antwortete nicht, und trocknete die Thränen. „Nun dann, Moritz, so bitte ich Dich wenigstens um einen Gefallen, ersuche Tante Ratenow, daß sie nur heute – nur heute keine Entscheidung von mir verlangt. Und Du, Moritz, verzeihe, daß ich Dich fragte.“

Sie wandte sich um und ging zurück. Sie nahm den Weg durch den Flur; im Gartensaal hatte sie Frieda’s Stimme gehört, und die Klänge eines Walzers schallten in ihr Ohr. Lili spielte wohl, wie es ihre Art so war, ein paar Tacte, um gleich darauf wieder etwas anderes vorzunehmen. Dann saß sie aber in ihrem Stübchen am Fenster. Nun hatte sie Keinen mehr hier, nun stand sie ganz allein; Alle waren böse auf sie, weil sie eine gesicherte Zukunft, eine behagliche Existenz, die beneidete Stellung einer reichen jungen Frau verschmähte – aus einem Grunde, der so lächerlich für die Welt, so heilig ernst für ein reines Frauenherz. Aber der Papa! der alte einsame Papa! sagte eine Stimme in ihrem Innern, die einzige, die sich gegen ihr Denken erhob. Dann schoß siedendheiß die Röthe der Scham in ihr bleiches Gesicht. „Nein,“ sagte sie halblaut, „ich habe ihn nicht lieb, ich betrüge ihn und mich.“ Sie kannte die Welt draußen nicht mit ihren Dornenpfaden, die ein einsames armes Mädchen gehen muß; aber so entsetzlich konnte es doch nicht sein, als wenn sie – sie sprang empor und das nervöse Schauern überkam sie wieder. Hastig griff sie nach einem Buche und blätterte darin. Dann blieben ihre Augen an einem Gedichte hängen:

<powm>„Die Mutter sprach: Lieb Else mein, Du mußt nicht lange wählen! Man lebt sich in einander ein, Auch ohne Liehesquälen; So Manche nahm schon ihren Mann, Daß sie nicht sitzen bliebe, Und fühlte sich im Himmel dann; Und Alles ohne Liebe.“</poem>

Sie lächelte schmerzlich und klappte das Buch zu; und auf ihre gefalteten Hände beugte sich der Kopf hinunter und sie weinte zum ersten Male nach langer Zeit wie ein Kind, wie ein armes verlassenes Kind. Und die Stunden vergingen; draußen webte die Frühlingsdämmerung in den knospenden Bäumen, und der Mond warf seinen matten Schein in die Stube des jungen Mädchens, und sie saß noch immer so. –

Aus dem Salon herauf klang Musik, Fräulein Lili spielte Clavier, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Andern blieben ja so ewig lange in Tante Ratenow’s Zimmer, und die alte Dame hatte in höflichster Weise sogar bitten lassen, Fräulein Lili möge nicht herüber kommen. Es war unausstehlich langweilig heute. Zumal das Diner mit dem Bennewitzer, der fast kein Wort gesprochen und nur immer die eine Bewegung mit der Hand über seinen dunklen Bart gemacht hatte; und vorher diese Familienscene bei Cramm’s; Annie als glückliche Braut, stets wie eine Gliederpuppe, und daneben der Lieutenant von Rost, der so unendlich gleichgültig dabei aussah, als ginge ihn die ganze Geschichte eigentlich gar nichts an. Die einzige wirklich Gerührte war Mama Cramm gewesen, denn des Papa’s Laune schien mehr aus den silberhalsigen Flaschen im Eiskübel zu stammen, als aus Entzücken über den Schwiegersohn. Lili hatte gleich, nachdem das erste Erstaunen vorüber war, sich aus dem intimen Kreise beurlaubt, natürlich mit der Erlaubniß, das frohe Ereigniß überall erzählen zu dürfen.

Draußen im Vorzimmer hatte sie in echt militärischer Weise gefragt: „Annie, wann ist denn die Bombe geplatzt? Seit wann überhaupt ist die Absicht vorhanden gewesen? gemerkt hat man bis jetzt doch noch nichts.“ Und Annie war erröthet: „O, es ist schon eine längere Neigung, aber Papa wollte immer nichts davon wissen.“

„Wie grausam!“ Lili hatte sich das Lachen verbeißen müssen. „Aber nun?“

„Ach Lili, ich wäre gestorben ohne ihn.“

„Herrje!“ hatte der Schelm verwundert ausgerufen. „Na, da will ich aber nicht länger stören. Sag, Annie, nicht wahr, er heißt doch von Rost?“

„Ja, von Rost.“ Die Antwort war etwas schnippisch ausgefallen.

„Adieu, Annie!“ Sie war, mit Mühe das Kichern verbeißend, davon gelaufen, um die große Neuigkeit zum Diner nach Hause zu bringen, und da gab es nur verstimmte Gesichter, und außer Frieda Niemand, der der Sache Interesse entgegentrug.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_143.jpg&oldid=- (Version vom 24.9.2020)