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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

An philosophischen war kein Mangel, doch neben dem erzvernünftigen Cartesius befanden sich auch Phantasten wie Paracelsus, van Helmont und gar Agrippa von Nettesheim, dessen „Philosophia occulta“ ich hier zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Schon den Knaben amüsirte die Dedikazionsepistel an den Abt Trithem, dessen Antwortschreiben beygedruckt, wo dieser Compère[1] dem andern Charlatan seine bombastischen Complimente mit Zinsen zurückerstattet.

Der beste und kostbarste Fund jedoch, den ich in den bestäubten Kisten machte, war ein Notizenbuch von der Hand eines Bruders meines Großvaters, den man den Chevalier oder den Morgenländer nannte, und von welchem die alten Muhmen immer so viel zu singen und zu sagen wußten.

Dieser Großoheim, welcher ebenfalls Simon de Geldern hieß, muß ein sonderbarer Heiliger gewesen sein. Den Zunamen „der Morgenländer“ empfing er, weil er große Reisen im Oriente gemacht und sich bey seiner Rückkehr immer in orientalische Tracht kleidete.

Am längsten scheint er in den Küstenstädten Nordafrikas, namentlich in den marokkanischen Staaten verweilt zu haben, wo er von einem Portugiesen das Handwerk eines Waffenschmieds erlernte und dasselbe mit Glück betrieb.

Er wallfahrtete nach Jerusalem, wo er in der Verzückung des Gebetes, auf dem Berge Moria, ein Gesicht hatte. Was sah er? Er offenbarte es nie.

Ein unabhängiger Beduinenstamm, der sich nicht zum Islam, sondern zu einer Art Mosaismus bekannte und in einer der unbekannten Oasen der nordafrikanischen Sandwüste gleichsam sein Absteigequartier hatte, wählte ihn zu seinem Anführer oder Sheik. Dieses kriegerische Völkchen lebte in Fehde mit allen Nachbarstämmen und war der Schrecken der Karawanen. Europäisch zu reden: mein seliger Großoheim, der fromme Visionär vom heiligen Berge Moria, ward Räuberhauptmann.

In dieser schönen Gegend erwarb er auch jene Kenntnisse von Pferdezucht und jene Reiterkünste, womit er nach seiner Heimkehr ins Abendland so viele Bewunderung erregte.

An den verschiedenen Höfen, wo er sich lange aufhielt, glänzte er auch durch seine persönliche Schönheit und Stattlichkeit, sowie[WS 1] durch die Pracht der orientalischen Kleidung, welche besonders auf die Frauen ihren Zauber übte. Er imponirte wohl noch am meisten durch sein vorgebliches Geheimwissen und niemand wagte es, den allmächtigen Nekromanten bey seinen hohen Gönnern herabzusetzen. Der Geist der Intrigue fürchtete die Geister der Kabbala.

Nur sein eigner Uebermuth konnte ihn ins Verderben stürzen, und sonderbar geheimnißvoll schüttelten die alten Muhmen ihre greisen Köpflein, wenn sie etwas von dem galanten Verhältniß munkelten, worin der „Morgenländer“ mit einer sehr erlauchten Dame stand und dessen Entdeckung ihn nöthigte, aufs schleunigste den Hof und das Land zu verlassen. Nur durch die Flucht mit Hinterlassung aller seiner Habseligkeiten konnte er dem sichern Tode entgehen, und eben seiner erprobten Reiterkunst verdankte er seine Rettung.

Nach diesem Abentheuer scheint er in England einen sichern aber kümmerlichen Zufluchtsort gefunden zu haben. Ich schließe solches aus einer zu London gedruckten Broschüre des Großoheims, welche ich einst, als ich in der Düsseldorfer Bibliothek bis zu den höchsten Bücherbrettern kletterte, zufällig entdeckte. Es war ein Oratorium in französischen Versen, betitelt „Moses auf dem Horeb“, hatte vielleicht Bezug auf die erwähnte Vision, die Vorrede war aber in englischer Sprache geschrieben und von London datirt; die Verse, wie alle französischen Verse, gereimtes lauwarmes Wasser, aber in der englischen Prosa der Vorrede verrieth sich der Unmuth eines stolzen Mannes, der sich in einer dürftigen Lage befindet.

Aus dem Notizenbuch des Großoheims konnte ich nicht viel sicheres ermitteln; es war, vielleicht aus Vorsicht, meistens mit arabischen, syrischen und koptischen Buchstaben geschrieben, worin sonderbar genug Citazionen in allen Sprachen vorkamen, unter andern fand ich oft den französischen Vers:

Où l’innocence périt c’est un crime de vivre.[2]

Mich frappirten auch manche Äußerungen, die ebenfalls in französischer Sprache geschrieben; letztere scheint das gewöhnliche Idiom des Schreibers gewesen zu seyn.

Eine räthselhafte Erscheinung, schwer zu begreifen, war dieser Großoheim. Er führte eine jener wunderlichen Existenzen, die nur im Anfang und in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts möglich gewesen; er war halb Schwärmer, der für kosmpolitische, weltbeglückende Utopien Propaganda machte, halb Glücksritter, der im Gefühl seiner individuellen Kraft die morschen Schranken einer morschen Gesellschaft durchbricht oder überspringt.

Jedenfalls war er ganz ein Mensch.

Sein Charlatanismus, den wir nicht in Abrede stellen, war nicht von gemeiner Sorte. Er war kein gewöhnlicher Charlatan, der den Bauern auf den Märkten die Zähne ausreißt, sondern er drang muthig in die Paläste der Großen, denen er den stärksten Backzahn ausriß, wie weiland Ritter Hüon von Bordeaux dem Sultan von Babilon that.

Und welcher bedeutende Mensch ist nicht ein bischen Charlatan? Die Charlatane der Bescheidenheit sind die Schlimmsten mit ihrem demüthig thuenden Dünkel! Wer gar auf die Menge wirken will, bedarf einer charlatanischen Zuthat. …… (Es folgt im Manuscript eine Stelle, welche sich der Wiedergabe entzieht.) Dem Publikum hat ein physikalisches Kunststück von je mehr Bewunderung eingeflößt, als alle Mirakel des ewigen Gedankens. [WS 2]

(Fortsetzung folgt.)
  1. Gevatter, College.
  2. „Wo die Unschuld untergeht, ist es ein Verbrechen zu leben.“

Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten. Ueber-     
setzungsrecht vorbehalten.     


Durch das Fensterchen der Almstube schimmerte noch ein mattes Licht, das aber bald erlosch.

Unfern der Hütte ließ sich Festei in gedeckter Stellung zwischen zwei Steinklötzen nieder.

In tiefer Stille verrannen dem Jäger die Stunden.

Mit einem Male – es mochte Mitternacht wohl schon vorüber sein – begannen ihm die Hände zu zittern, und ein kalter Schauer lief ihm über den erhobenen Nacken. Es war ihm, als hätte er ein Geräusch vernommen, wie das Knirschen eines Schuhes auf lockerem Kiese.

Er bohrte die Augen durch die Finsterniß – und gewahrte, im Dunkel eben noch erkenntlich, eine hohe, männliche Gestalt, die sich lautlos an der Hüttenwand entlang tastete, in der Richtung nach der Thür.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sowie sowie
  2. [Dieser Absatz lautet im Manuskript:] Der Zweck heiligt die Mittel. Hat doch der liebe Gott selbst als er auf dem Berg Sinai sein Gesetz promulgirte nicht verschmäht bei dieser Gelegenheit tüchtig zu blitzen und zu donnern, obgleich das Gesetz so vortrefflich, so göttlich gut war, daß es füglich aller Zuthat von leuchtendem Kolophonium und donnernden Paukenschlägen entbehren konnte. Aber der Herr kannte sein Publikum, das mit seinen Ochsen und Schaafen und aufgesperrten Mäulern unten am Berge stand und welchem ein physikalisches Kunststück mehr Bewundrung einflößen konnte als alle Mirakel des ewigen Gedankens.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_167.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2024)