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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 12.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Frühlingslied zum 22. März.

Neue Säfte drängen mächtig
Nach des Baumes jungem Holz,
Wettertrotzend, kronenprächtig
Trägt er seiner Jahre Stolz.
Märzenschnee in leichten Flocken
Deckt im Feld des Pfluges Spur,
Morgen wieder sonnig trocken
Dampft die Scholle auf der Flur.

Auf ein kühnverjüngtes Werden
Spannt sich neu die deutsche Kraft,
Unter Mühen und Beschwerden
Treibt der unverlorne Saft.
Scharfgeriss’ne Furchen bergen
Keime schwellend reicher Saat,
In zersprengten morschen Särgen
Rührt sich junge Lebensthat.

Und der Kaiser überm Volke
Denkt vergang’ner Siege leis,
Durch der Zukunft Schleierwolke
Schaut der ungebeugte Greis:
Milde Friedensstrahlen glänzen
Statt der Kriege düstrem Roth
Und in schwertbeschützten Grenzen
Steht der Arbeit Aufgebot.

Schnell ist eine Schlacht geschlagen,
Langsam wächst des Friedens Bau –
Hoffnungsreichen Frühlingstagen
Trübt sich leicht das reine Blau;
Aber wer in Sturm und Grauen
Seiner Schlachten ruhig stand,
Legt mit ruhigem Vertrauen
Wieder an den Pflug die Hand.

Und der Greis, dem seiner Tage
Sonne langsam tiefer sinkt,
Lächelt letzter Sorg und Plage,
Ob auch fern die Ernte winkt,
Zieht noch Furchen, streut noch Samen,
Der für Andre reifen soll,
Grüßt in seines Gottes Namen
Frühlingstage, zukunftsvoll.

 Karl Weitbrecht.




Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

„Beste Frau von Ratenow“ sagte der Bennewitzer, als Else den Gartensalon so plötzlich verlassen hatte, „ist meine Braut krank? Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, diese stumme Verzweiflung macht mich ängstlich – sollte es wirklich die Erschütterung über den plötzlichen Todesfall allein sein, die sie so völlig verändert hat?“

Die alte Dame schüttelte sorglos das Haupt.

„Mein lieber Hegebach! Die Mädchen von heutzutage sind anders als zu unserer Zeit; da war noch frisches kerniges Leben, heute gehört eine Portion Weltschmerz zum guten Tone. Und im Uebrigen – denken Sie, es ist der Begräbnißtag, und sie hat trotz Allem und Allem schier lächerlich zärtlich an dem Vater gehangen.“

„Meinen Sie, gnädigste Frau?“ fragte er langsam und setzte sich etwas bequemer in das Polster des tiefen Lehnstuhles, als er sich vorher erlaubt hatte in Gegenwart des jungen Mädchens. „Ich weiß es nicht; sie kam mir noch vor Kurzem wie ein Kind vor; es war wohl der Ausdruck der Augen, der es hauptsächlich machte. Als ich heute hinaufkam zu ihr, um sie abzuholen, da traf mich ein Blick – ja, Sie werden mich sentimental schelten, gnädige Frau, aber ich kann diesen Blick nicht wieder bannen, es lag so etwas Vorwurfsvolles, Fragendes darin. Ich habe schon einmal ein Paar Augen mich so anschauen sehen, ich hab’s nie vergessen können. In Rußland war es, ein junges Zigeunerweib stand am Wege und bettelte. Mein Kutscher, ein roher Gesell,

hieb ihr mit der Peitsche über den Kopf; sie zuckte nicht mit der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_189.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2020)