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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Flur und die Küche huschte er, und durch das Gesindezimmer in’s Freie.

Es war empfindlich kühl, und Else von Hegebach zog den Schleier vor das Gesicht und ging, quer über den Hof, zum Thore hinaus. Die Mamsell, die just in den Milchkeller wollte, sah ihr kopfschüttelnd nach.

„Ich glaube, sie will schon auf den Kirchhof,“ sagte sie zu dem Küchenmädchen.

„Sie hatte eine Reisetasche in der Hand,“ meinte die Andere. Und dann gingen sie hinunter.

In der Thür des Pferdestalles aber stand ein großer blonder Mann und sah ihr nach mit den ehrlichen blauen Augen und ernstem Gesichte. Er wußte, was sie wollte, und er rührte keinen Fuß, um ihr nachzueilen, um sie zu halten „Wohin aber?“ fragte er halblaut, und so stand er regungslos, bis die schwebende dunkle Gestalt am Ende der Allee verschwunden war. Dann betrachtete er noch einmal das kranke Pferd und klopfte ihm den glänzenden Hals, als es ihn ansah mit den klugen Augen, und als er nach einer halben Stunde langsam über den Hof in das Haus schritt, hörte er das grelle Pfeifen einer Locomotive von jenseits der Stadt.

„Fahre wohl, Else, meine alte Deern,“ sagte er leise. „Ob Du klug gethan? Ich weiß es nicht – aber daß Du recht thust, das weiß ich.“

Es war um die neunte Stunde, als Frau von Ratenow die Jungfer hinaufschickte und Fräulein von Hegebach bitten ließ, zu ihr zu kommen. Die alte Dame saß am Fenster, wie immer, und sah sehr ernst aus, auch ein bischen bleich. Sie hatte eine schlechte Nacht gehabt; beängstigende Träume mit allerlei bösen Ahnungen hatten sie gequält; das fatale weiße Kleid und der welke Veilchenstrauß, und das sonderbare Wesen des Mädchens gestern hatten eine große Rolle dabei gespielt. Und über sich selbst war die alte Dame heute am nüchternen Morgen in hellen Zorn gerathen – sie hätte das Mädchen gestern Abend wecken sollen, ihr zürnen müssen! Durfte sie an einen Andern denken, als Braut?

Und was war denn dieser Andere? Ein Bürschchen, wie sie zu Dutzenden umherlaufen, durch nichts ausgezeichnet, als durch ein bischen Talent auf der Geige. Es mußte ein Ende gemacht werden, in aller Güte – ja, aber ein Ende.

„Das gnädige Fräulein ist nicht in ihrem Zimmer,“ rapportirte das Mädchen.

„So such’ im Garten!“ war der Befehl.

„Ach Gott!“ Die Dienerin blieb stehen, „ich glaube nur, dort wird das Fräulein auch nicht sein, gnädige Frau. Die Mamsell sagt ja, Fräulein von Hegebach wäre vor Thau und Tag schon auf den Friedhof gegangen.“

„Unsinn!“ Die alte Dame erhob sich. „Wann soll das gewesen sein?“

„Gegen vier Uhr, gnädige Frau, sagt die Mamsell.“

„Und jetzt ist es Neun! Such’ im Garten.“

Das Mädchen ging. Die Zurückbleibende setzte sich ruhig wieder nieder und blickte über den Hof hinweg. Die Jungfer kam und kam nicht. Die alte Dame wollte sich nicht ängstigen; wo sollte sie auch sein, die Else? Sie würde schon kommen.

„Ich kann das gnädige Fräulein nicht finden,“ berichtete die Dienerin. „Dörte sagt auch, sie hätte eine Tasche in der Hand gehabt.“

„Es ist gut, sie wird schon kommen – das gnädige Fräulein.“

Das Mädchen verließ das Zimmer. Eine Weile verharrte die alte Dame noch still auf ihrem Platze, dann ging sie die Treppe hinauf und trat in die Stube der Vermißten. Alles wie sonst – nichts fehlte, als die kleine Briefmappe, das Crucifix über dem Bette und ihr Gebetbuch; aber das bemerkte sie noch nicht. Die Truhe war sorgfältig geschlossen, und als Frau von Ratenow den Deckel hob, lag das zerknitterte weiße Kleid darin, sorgfältig zusammengelegt. „Sie kommt schon wieder; – Gott weiß, was sie vorhat heute früh!“

Nun trat sie noch einmal zu dem kleinen Tische unter dem Bücherbrett; da lag ein Brief! „Ein Brief – versiegelt?“ Und es war so eine kritzlige neumodische Handschrift; die alte Dame mußte erst die Brille aus der Tasche holen. „An Frau von Ratenow,“ las sie.

Sie setzte sich hin und löste das Siegel, langsam und ohne Hast, aber sie war bleich geworden bis in die Lippen.

 „Liebe, liebe Tante!

Halte mich nicht für allzu undankbar, weil ich heimlich Dein Haus verlasse, in dem mir so unzählige Gutthaten zu Theil geworden sind während meines ganzen Lebens! Mir blieb keine Wahl. Ich stand waffenlos und müde Euch Allen gegenüber; nur soviel Kraft fand ich noch – um zu gehen. Ich kann nicht mit einer Lüge im Herzen leben. Die Wahrheit zu sagen – mündlich zu sagen, vermochte ich nicht; ich wollte es thun, als ich gestern mit Herrn von Hegebach an Papa’s Grabe stand – und ich brachte kein Wort über die Lippen. Ich weiß nicht, ob Du mich verstehst, Tante. Ich bitte den lieben Gott darum, Du wirst dann milder urtheilen über mich!

Von D. aus, wohin ich meine Schritte lenke, werde ich an Herrn von Hegebach schreiben. Ich weiß, er ist zu edeldenkend, um mir nicht gern ein Versprechen zurückzugeben, das in einem Moment gelähmten Willens und ohnmächtiger Angst mir entrissen wurde.

Lebe wohl, liebe Tante, ich bin und bleibe in steter inniger Dankbarkeit Deine Dich hochverehrende Nichte

Elisabeth von Hegebach. 

N. S. Ich kann in D. jederzeit die Stellung einer Hülfslehrerin antreten; ängstige Dich nicht wegen meiner Zukunft.“

Die zitternden Hände ließen das Briefblatt sinken. „Daß Gott – wie war es möglich!“

Noch einmal nahm sie das Schreiben vor die Augen, als habe sie nicht recht gelesen: dann sah sie nach der Uhr, und wie unter einer schweren Last erhob sie sich und suchte ihr Zimmer auf. Sie klingelte und befahl der Jungfer mit abgewandtem Gesichte:

„Ich lasse meinen Sohn bitten herüber zu kommen.“

„Der Herr Baron sind ausgeritten,“ war die Antwort.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und fing dort an zu räumen, ein Necessaire, Negligé und allerhand Nothwendiges zur Reise. Aber sie griff immer etwas Verkehrtes und konnte das Richtige nicht finden; dabei faßte sie sich öfter an die Stirn, und dann suchte sie das Coursbuch; um elf Uhr erst ging der Zug via Halle.

Sie klingelte noch einmal und bestellte den Wagen, und der Johann sollte sofort mit einem Billet nach Bennewitz.

„Herr von Hegebach ist in der Stadt, ich sah schon seine Equipage heute früh,“ bemerkte schüchtern das Mädchen.

War denn Alles verhext heute? „Es ist gut,“ sagte sie wieder, aber der Zorn begann sich mächtig in ihr zu regen. Das war der Dank für alle ihre Liebe! Sie lief davon, wie es in Romanen vorkommt, sie stieß in grenzenloser Unüberlegtheit Alles, Alles von sich, was ihr, der Heimathlosen, wie ein großes unverhofftes Glück in den Schooß gefallen; sie compromittirte sich und das Haus, in dem sie eine Heimath gefunden. Das sanfte Mädchen mit den stillen braunen Augen, wo hatte sie diese unselige Energie her? Aber man durfte nicht nachgeben, der Brief an den Bennewitzer mußte verhindert werden, um jeden Preis.

Sie ging an den Schreibtisch und warf ein Telegramm auf das Papier an die Vorsteherin des Institutes zu D., Else zu ersuchen: keine Zeile zu schreiben, ehe sie nicht Rücksprache mit ihr genommen; sie käme mit dem Nachtzuge und bäte um Logis. Sie schickte das Mädchen mit der verschlossenen Depesche fort und schrieb an den Bennewitzer; er mußte doch in aller Welt wo aufzufinden sein, im Hôtel, auf dem Rathhause oder im Landrathsamt; er durfte nicht herkommen, man mußte ihm irgend etwas vorspiegeln. Wie wurde doch dieser ehrlichen geraden Natur das Lügen so schwer; sie zerriß schon den dritten Bogen. Else hat Migräne, hatte sie zuerst schreiben wollen; aber, mein Gott, er erfuhr sicher, daß sie ausgegangen. Sie habe plötzlich eine kleine Reise unternehmen müssen – Pah! wo soll sie hinreisen? Er mußte ja merken, daß irgend Etwas nicht in Ordnung. – Nein, sie konnte nicht lügen, mochte kommen, was da wollte, sie sah keinen Ausweg.

„Wenn Moritz doch erst da wäre!“

„Eine Empfehlung von Herrn von Hegebach.“ Das Mädchen brachte ein Bouquet von Maiblumen in kostbarer Manschette an Fräulein von Hegebach und einen Brief an Frau von Ratenow.

„Trage den Strauß in das Zimmer des gnädigen Fräulein,“ befahl sie und dann erbrach sie das Couvert.

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_191.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2020)