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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Ehe ich dies an Beispielen nachweise, habe ich eine Vorfrage zu beantworten: Wie giebt sich eine nationale Sympathie für ein fremdes Volk kund? Sollen etwa blos amtliche Handlungen der Regierung als Maßstab gelten? Das ist ein Maßstab, den zurückzuweisen Pater Didon der Allererste sein sollte, und zwar im Interesse seines eigenen Volkes. Denn die Eingriffe der französischen Regierung in die Geschicke benachbarter Länder waren nicht von Sympathien, sondern von Rücksichten einer egoistischen Politik bedingt. König Ludwig Philipp ließ Antwerpen belagern, nicht weil er die Belgier liebte und sich für ihre Unabhängigkeit begeisterte, sondern weil König Leopold I. sein Schwiegersohn war und weil diese harmlose Action seinen jungen Thron befestigte. Der Prinz-Regent Louis Napoleon schritt gegen die römische Republik ein, weil er sich die Unterstützung der Clericalen zu dem schon damals von ihm geplanten Staatsstreiche in Frankreich sichern wollte. Als Kaiser erklärte Napoleon III. wohl anscheinend im Interesse Italiens Oesterreich den Krieg, aber nicht um den Traum der italienischen Patrioten und Bluzeugen zu verwirklichen, sondern um Oesterreich zu demüthigen, das damals für mächtig galt, und um die Hegemonie Frankreichs in Europa endgültig zu begründen. Als Oesterreich einige Niederlagen erlitten hatte, beeilte sich Napoleon III. denn auch, Frieden zu schließen, ohne seinen Verbündeten Victor Emanuel auch nur zu Rathe zu ziehen; er ließ sich seine Intervention durch die Abtretung von Nizza und Savoyen bezahlen und widersetzte sich, so viel an ihm lag, bis 1870 der Vollendung des italienischen Einheitswerkes durch die Besetzung Roms. Mit all diesen politischen Actionen hatten die nationalen Sympathien nichts zu thun. Es ist wahr, zur Zeit der ersten Republik fielen französische Truppen in fremde Länder unter dem Vorwande ein, sie von ihren einheimischen Tyrannen zu befreien. So überschwemmten sie die Schweiz, Italien, Westdeutschland, die österreichischen Niederlande und Holland. Die Befreiung bestand aber in der Aneignung der überfallenen Länder, die ausgesogen, ihrer Sprache, ihres Volksthums, ihrer geschichtlichen Individualität beraubt wurden und die denn auch ihren „Befreiern“ so wenig Dank wußten, daß sie sich bei der ersten Gelegenheit mit dem Schwerte wider sie erhoben.

Allegorische Seitenfigur
aus Röhling’s Composition „Wein, Weib und Gesang“.

Deutschland hat nie in die Geschicke eines fremden Volkes eingegriffen, wenn es dazu nicht durch das Interesse seiner Selbsterhaltung genöthigt war; das ist richtig; doch sei nicht vergessen, daß Deutschland als ein Factor, mit dem gerechnet wird, erst seit gestern existirt und daß in Momenten, wo starke deutsche Sympathien für ausländische Nationalbestrebungen bestanden, die öffentliche Meinung Deutschlands kein Mittel besaß, die Handlungen der deutschen Regierungen zu bestimmen.

Von Regierungsactionen muß also abgesehen werden, denn in diesen ist bisher alles Andere eher zum Ausdrucke gekommen, als nationale Sympathie oder Antipathie. Die Dolmetscher der Gefühle des Volkes finden wir außerhalb des kleinen Kreises der Minister und vortragenden Räthe. Bei seinen Dichtern, seinen Schriftstellern müssen wir Umfrage halten, wenn wir wissen wollen, was zu gegebenen Zeiten seine Seele bewegt hat. Die flüchtigste Wanderung durch das deutsche Schriftthum genügt nun aber, um die Ueberzeugung zu erwecken, daß seit einem Jahrhundert jede noch so leise Regung eines fremden Volksthums im deutschen Herzen ein lautes, oft sogar überlautes Echo erweckt, daß in diesem Zeitraume die häufig leidenschaftliche und unverhältnißmäßige Sympathie der Deutschen jedes Volk begleitet hat, das nach Licht und Luft rang, das sich sein Dasein und einen Platz unter der Sonne, das sich Freiheit und Menschenrechte erkämpfen wollte. Weiter als um ein Jahrhundert zurückzugreifen ist nicht thunlich. Wie ein Individuum, so muß auch ein Volk zuerst sich seiner selbst bewußt werden, ehe es für andere etwas fühlen kann; das Nationalbewußtsein hat sich aber bei keinem der großen Völker Europas vor viel mehr als hundert Jahren von einer unbestimmten ahnenden Empfindung zur Klarheit emporgerungen.

Der erste Beweis, daß man sich für ein fremdes Volk interessirt, daß man dafür Sympathie empfindet, ist doch wohl,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_236.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2024)