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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Geheimpolizei gleichsam als Volontär zutheilte. Dieser Unterbeamte, Marsucci mit Namen, sollte den Aspiranten durch gelegentliche Verwendung bei geringfügigen Actionen gleichsam einer Vorprüfung unterwerfen und nach Ablauf einiger Monate seinem Vorgesetzten Bericht abstatten. Bis dahin erhielt Emmanuele aus besonderer Vergünstigung fünf römische Paoli wöchentlich – selbst für die damalige Zeit eine lächerlich kleine Summe, die nicht ausreichte, um Salz und Brod zu bestreiten.

Marsucci, der nach kurzer Frist schon bemerkte, daß Nacosta für den neuen Beruf ein ganz eminentes Talent besaß, ward beklommen bei dieser Wahrnehmung, zumal er sich selbst wegen mehrfacher Unpünktlichkeiten eine energische Rüge geholt und einen Collegen, der beim Polizeigeneral des Viertels nicht ganz ohne Einfluß war, persönlich beleidigt hatte. Er witterte in Emmanuele Nacosta den gefährlichen Nebenbuhler, der demnächst ihn ersetzen würde, und so bot er die ganze Kunst der Intrigue auf, den vermeintlichen Rivalen durch hohle Versprechungen hinzuhalten und ihm glaubhaft zu machen, es liege in seinem, Nacosta’s, wohlverstandnen Interesse, die Sache ja nicht zu übereilen, sondern jedenfalls die Herbstsaison abzuwarten, wo die Gelegenheiten, sich auszuzeichnen, häufiger würden.

Emmanuele durchschaute zwar schließlich das verlogene Spiel des Menschen, aber er sah kein Mittel, seine Bestrebungen mit Umgehung Marsucci’s zu fördern. Wenn er es etwa versuchte, im Secretariate des Cardinals sich direct zu beschweren, so konnte Marsucci den rebellischen Neuling ohne Schwierigkeit aus dem Sattel heben. Emmanuele beschloß daher, sich wohl oder übel durchzuschlagen, da Marsucci den bisherigen Zustand zwar noch eine Weile hinausziehen, aber nicht dauernd aufrecht erhalten konnte.

Inzwischen gerieth er mit jedem Tage tiefer in’s Elend. Von den Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte, wanderte ein Stück nach dem andern zum Pfandverleiher oder zum Trödler. Zuletzt erübrigte ihm – außer dem Anzuge, der ihm natürlich nicht feil war – nur noch ein goldenes Kreuz mit Amethysten und Perlen, das Crispina von ihrem Pathen zur Firmelung empfangen, und das sie Tag und Nacht wie ein Amulett auf der Brust trug.

Nachgerade waren ihm auch Zweifel erwacht, ob die Carrière des Geheimpolizisten wirklich so lohnend sei, wie er sich vorgestellt. Marsucci – darüber war er sich klar – lebte trotz seiner festen Stellung in sehr beschränkten Verhältnissen, und das Avancement schien gleich Null, denn während der sechsthalb Monate, die er jetzt in Neapel verlebt hatte, war nicht ein Einziger von den Amtsgenossen Marsuccsi’s aufgerückt.

Nicht Marsucci selber hatte ihm dies gesagt – Emmanuele hätte alsdann das Gegentheil für die Wahrheit gehalten – er entnahm es vielmehr den Reden eines ehemaligen Carabiniere, den die Geheimpolizei des Monsignore De Fabris gleichfalls eingereiht hatte.

Es war Princip – so erörterte ihm der Carabiniere – die Subalternpolizisten nur dann avanciren zu lassen, wenn sie entweder eine bestimmte, sehr erkleckliche Anzahl von Jahren gedient, oder durch eine ganz eminente Leistung sich hervorgethan hätten. Zu solchen Leistungen aber bot sich wenig Gelegenheit, zumal das Secretariat des Cardinals einen verzweifelt peinlichen Maßstab anlegte. Die Liberalen, auf die das Ganze gemünzt war, hielten sich während der letzten Monate auffallend ruhig. Seit Anfang Juli hatte man nur zwei- oder dreimal „Entdeckungen“ zu verzeichnen, die halbwegs der Mühe lohnten. Uebrigens meinte der Carabiniere, es sei überraschend, wie consequent in solchen Fällen stets nur der betreffende Polizeigeneral, niemals der Unterbeamte in der „Gazetta del Regno“ namhaft gemacht werde. Er selber wisse davon ein Lied zu pfeifen, denn jüngsthin, bei der letzten Affaire im Ostviertel, sei er selber die Seele der gesammten Operation gewesen. Aber das erfahre man weder im Publicum, noch droben im Secretariate des Cardinals.

So entwickelte sich nach und nach bei Emmanuele Nacosta eine fixe Idee: Wenn er als Geheimpolizist prosperiren sollte, so mußte er die Gelegenheit, sich öffentlich auszuzeichnen, selbst schaffen.

Er theilte seine Gedanken erst schüchtern, dann freier und eingehender seiner Crispina mit, und diese, längst auf dem Standpunkte, jedes Aeußerste blindlings zu wagen, bestärkte sein verwerfliches Vorhaben.

Je mehr die Noth wuchs, um so rücksichtsloser entspann sich das verbrecherische Project; von Tag zu Tag gewann es klarere Umrisse – und als Emmanuele sein letztes Werthstück. das Kreuz Crispina’s, zum Juwelier trug, da geschah es in der deutlich bewußten Absicht, den Erlös in erster Linie für diesen Zweck zu verwenden.

Es galt, einen Menschen zu finden, der geeignet schien, bei der frevelhaften Komödie die Rolle des Opfers zu spielen, und lauernd, wie ein Habicht, der seine Beute erspäht, trieb sich Emmanuele von diesem Tage an überall da herum, wo er unerfahrene, leichtgläubige und phantastische Menschen vermuthete – also vornehmlich an den Verkehrsstätten des niederen Volkes, zumal der Fremdlinge, die aus den Kleinstädten der benachbarten Inseln und der calabrischen Küste herüberkamen.

Schon war die Hälfte jenes Erlöses bei zahlreichen verunglückten Anläufsen in die Tasche der Osterienbesitzer und Austernverkäufer geflossen, als er, fast schon an der Ausführbarkeit seines Planes verzweifelnd, mit Salvatore Padovanino, dem Verlobten der schönen Maria, zusammentraf, und alsbald in dem jungen Manne eine Persönlichkeit witterte, deren extravagante Veranlagung die Möglichkeit eines Erfolges bot.

Emmanuele entdeckte, daß Salvatore fast mit der gleichen Gier, wie er selbst, nach einer Aufbesserung seiner bedrückten Lage, nach einem Schauplatze rang, auf dem er seine Talente bethätigen, seinen unermeßlichen Lebensdurst befriedigen könne. Emmanuele gewahrte ferner, daß er es mit einem glühenden Verehrer des Cardinals, mit einem leidenschaftlichen Gegner der Freiheitsfreunde zu thun hatte, der geneigt schien, alle Mißerfolge, die ihm zu Theil geworden, auf Rechnung dieser Partei zu setzen – völlig im Einklange mit den Erörterungen der amtlichen Journalistik, die gleichfalls jede staatliche und städtische Calamität, jede Stockung des Handels, jede auswärtige Verwickelung der Oppositionspartei in die Schuhe schob.

Ehe noch Emmanuele wußte, wie ihm geschah, war er mit dem leidenschaftlichen Salvatore einig. Bei der letzten Begegnung vor der Abreise des Apuliers nach Capri packte den gewissenlosen Verräther für Augenblicke die Reue; die kindliche Naivetät des verblendeten jungen Mannes, gepaart mit so starrer Entschlossenheit, mit so glühendem Fanatismus, hatte in der That etwas Rührendes. Da bemerkte Emmanuele, als der Apulier aus der Dämmerung der Osteria in’s Freie trat und noch einmal den Blick nach dem Zurückbleibenden wandte, daß die Erscheinung des Jünglings eine gewisse Aehnlichkeit mit der des tödtlich gehaßten Marseillers hatte – und die flüchtige Regung des Mitleids ging unter in der Brandung einer wilden Erbitterung. Er, Emmanuele, war auch unschuldig gewesen, als zu Livorno ihn das Verhängniß ereilte; er hatte ehrlich gearbeitet und war dennoch mit Füßen getreten worden, wie ein räudiger Hund. Mochte es die bürgerliche Gesellschaft nun verantworten, wenn er, dem das Wasser schon bis an die Kehle ging, einen Leidensgefährten von dem rettenden Brette, auf dem nur für Einen Platz war, hinab in die Tiefe stieß.

Zehn Tage später saß Emmanuele, zitternd vor Aufregung, in der Dachstube der traurigen Miethscaserne und besprach in jenem bänglichen Flüstertone, den das Ehepaar sich während der letzten Wochen angewöhnt hatte, die Situation. Das Kind schlief. Crispina hatte auf dem rohen Holztisch am Fenster ein kärgliches Mahl bereitet, das Emmanuele trotz des Hungers, den er empfand, nicht anrührte. Auch sie genoß nur ab und zu einen Bissen; ihr blitzendes Auge heftete sich mit dämonischem Ausdruck auf das hagere Gesicht, das, wie es sich so im gedämpften Gespräche zu ihr hinneigte, von allen Leidenschaften durchwühlt schien. Salvatore hatte nicht Wort gehalten. An dem Platze des Stelldichein, wo Emmanuele ihn gestern in später Abendstunde erwartet hatte, war er nicht eingetroffen: dafür lag jetzt in verstellter Handschrift ein Billet auf dem Tisch, das Emmanuele vor einer Stunde bei dem Besitzer der Weinschenke am Strande von Santa Lucia in Empfang genommen. Das Schreiben lautete:

„Ich bin bereit – sobald der Cardinal mir in persönlicher Begegnung erklärt, daß der Plan seinem Willen entspricht. Glaubt Ihr dies erreichen zu können, so kommt heute um die nämliche Stunde, die wir für gestern vereinbart, an die nämliche Stelle.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_278.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2021)