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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 19.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


5.

Das Marktschiff hatte um zwei Uhr Nachmittags die Marina von Capri verlassen und steuerte jetzt mitten im Golfe, – die Kielspitze auf die ferne schimmernden Uferlinien gerichtet, die sich vom Leuchtthurme des Molo in der Richtung von Portici hinziehn. Klar und sonnig lag das unvergleichliche Panorama Neapels vor den Augen der Meerfahrer; ein leichter Wind belebte die azurblaue Fluth und drängte die glänzende Rauchwolke des Vesuv seitwärts, sodaß sie aussah wie eine sturmgebeugte phantastische Pinie.

Zuvorderst auf Deck saßen zwei junge Mädchen, beide in Gedanken versunken und dennoch völlig verschieden im Ausdruck ihrer traumverlornen Gesichter. Die Eine war Maria, die allbewunderte Zingarella; die Andere Giulietta, bei deren Mutter Signore Cesari, der napoletanische Rechtsgelehrte, Wohnung genommen.

Maria schwankte im Ausdruck ihres schönen Gesichtes zwischen freudiger Unruhe und banger Niedergeschlagenheit. Von Zeit zu Zeit grub sich ihr zwischen den Brauen die charakteristische Falte ein, die auf ernstes, alle sonstigen Gedanken verschlingendes Grübeln hinwies. Für die Herrlichkeiten der Gegenwart, für die leuchtende Scenerie des unvergleichlichen Golfes hatte sie kaum einen Blick.

Giulietta inzwischen, sonst die Fröhlichkeit selbst, schien weich und wehmüthig; ihre Augen schimmerten feucht, – und wie sie jetzt nach Capri zurückschaute, stahl sich ihr unter den Wimpern eine rollende Thräne hervor. Trotz dieser Wehmuth machte das Mädchen den Eindruck ruhiger Klarheit und Harmonie; man sah ihr an: was ihr diese Thränen entlockte, war kein herzbewegender Sturm, sondern das mildere Gefühl einer Trauer, die sich verwinden läßt, sobald die Seele sich ernstlich zum Entschlusse ermannt. Ihr hübsches Gesichtchen, sonst unbedeutend, ward durch diese Empfindungen gleichsam geadelt. Und wer nun das Lächeln gewahrte, das ihr nach jenem flüchtigen Aufwallen des Gemüths um den kleinen, rosigen Mund spielte, der mußte sich sagen: Diese Giulietta weiß, was sie will; und mehr noch: was sie will, das ist gut. –

Eine Stunde war vorüber gegangen, ohne daß die Mädchen von einander Notiz genommen. Maria, die später als Giulietta an Bord kam, hatte die ehemalige Gespielin mit jener Zerstreutheit gegrüßt, die Giulietta bereits an ihr kannte, und dann, ihr schräg gegenüber, auf einer roh gezimmerten Holzkiste Platz genommen. Wäre Giulietta auch weniger mit sich selbst beschäftigt gewesen, – schon Maria’s Verschlossenheit würde sie vom Versuch einer Unterhaltung abgeschreckt haben.

Gleichwohl gab sie der Zingarella freundlich Bescheid, als diese nun aufstand und vor sie hintrat mit der plötzlichen Frage:

„Hast Du Geschäfte in Napoli?“

Unvermittelt, hastig und schroff klangen die Worte; sie schienen der Ausfluß des ungestümen Verlangens, so rasch als möglich aus dem Banne der eigenen Gedanken hinauszuflüchten, aus dem Taumel der Träumereien, die ihr Herz pochen und ihr Gehirn schwindeln machten.

„Wenn Du willst, ja,“ versetzte Giulietta. „Du weißt doch, daß mein Bruder jetzt in Salerno zur Schule kommt. Das heißt: nicht, was man so alltäglich unter ‚Schule‘ versteht, wo sie das Alphabet lernen und die Zahlen; das kann er ja längst; sondern allerlei Wissenschaft und die Sprache der Kirche ...“

„Ja wohl, das weiß ich. Ganz Capri hat darüber gestaunt. Was mich betrifft, so freut’s mich von Herzen, daß Euch der Alessandro so einschlägt. Als er damals den Arm brach und schlecht geheilt wurde, da meinten Alle, es sei nun aus mit dem rechten Erwerb; aber ich dachte mir gleich: der Herr Pfarrer versteht sich besser darauf, wenn er sagt, der Junge sei klugen Kopfes, und nicht jeder Sohn eines Fischers brauche Fischer zu werden.“

„Nicht wahr?“

„Aber was soll’s nun mit Deiner Fahrt nach Neapel? Der Weg nach Salerno führt doch über Sorrent.“

„Nach Salerno geh’ ich auch nicht, obwohl’s der Mutter und mir eine rechte Beruhigung gewesen wäre, wenn ich gerade dort was gefunden hätte.“

„Gefunden! Wie so?“

„Ja, verstehst Du denn nicht ...? Die Schule, wo Latein gelehrt wird, kostet ein furchtbares Geld, und da meinte die Mutter, sie könne das Haus mit den Fremden allein besorgen. Ich muß verdienen, Maria, sonst reicht’s nicht aus, – und schon seit Juli haben wir Umschau gehalten. Zuerst in Salerno. Da war Alles besetzt, oder was sich darbot, war so kläglich bezahlt, daß der Ertrag für mich selber nicht zugelangt hätte. Dann in der Hauptstadt. Da hat’s auch Mühe gekostet. Jetzt endlich hat der Agent uns Nachricht gegeben, – ganz plötzlich und da die Stelle mir paßt ...“

„Also ein Dienst ...?“ fragte Maria.

„Im Albergo zum ‚Goldnen Kreuz‘, – Strada del Molo,“ gab Giulietta zurück. „Als Cameriera hab’ ich vom Padrone

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_309.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)