Seite:Die Gartenlaube (1884) 366.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Trauung mit der langen Rede, – die vielen Glückwünsche, und zuletzt der weite Weg hierher – Siehst Du, Großmutter, wir haben Zeit genug!“

„Du bist ein Quälgeist, Lili!“ sagte die Großmutter, allein sie rückte sich lächelnd in ihrem Sessel zurecht und war nach einigen Minuten im vollen Erzählen. Schmeichelnd umfloß uns der Blumenduft, und jetzt klang durch die klare Luft fernes Glockengeläute – der Brautzug näherte sich der Capelle.

„Ja, ja, mein Kind,“ begann die Großmutter, „das war eine schöne Zeit, als wir Beide noch jung waren, das Lorchen und ich! Ich sprang und lachte den ganzen Tag, und Lorchen erst – hast Du nicht gesehen! ein wilderes Ding gab es nimmer! Die Bachstelze nannte man sie, weil sie so flink und zierlich war und so helle Augen hatte in dem feinen, beweglichen Köpfchen. Weit und breit gab es kein schöneres Mädchen, als sie, und ihre Schönheit war so eigenartig, so zart und vornehm und so anmuthig dabei, daß man die Augen kaum von ihr abwenden konnte.

Das wußte Lorchen aber auch und führte ein unbeschränktes Regiment; alle Männer, jung und alt, huldigten ihr, und wie Mancher machte nicht in jener Zeit den Versuch, das Bachstelzchen für sein Haus einzufangen! Aber das ging nicht so leicht; Lorchen war ein Trotzkopf und kannte kein größeres Vergnügen als ihre Verehrer mitleidlos zu quälen, wo und wie sie nur konnte. Oft genug habe ich ihr darüber Vorwürfe gemacht, denn ich war ihre liebste Freundin, der sie alle kleinen Teufeleien, die sie verübte, ehrlich beichtete. Manchmal erzürnten wir uns ernstlich darüber, wenn nach einem Balle oder nach einer Waldfahrt ihr Sündenregister gar zu lang war; allein was half’s? Sie wußte doch, daß ich ihren Bitten, ‚ihr wieder gut zu sein‘, nicht widerstand (war eben gerade so eine kleine Schmeichelkatze, wie Du, Lili!) und daß bei der nächsten Gelegenheit all die jungen Männer, die sie genarrt und gequält, ihr wieder zu Füßen liegen würden. Ich habe Dich in diesen Tagen häufig ein Lied singen hören, Kleine,

‚Ich weiß ein Maidlein hübsch und fein,
0 Hüt’ Du Dich!
Sie kann wohl falsch und freundlich sein, –‘

war’s nicht so?“

„Gewiß, Großmutter,“ sagte ich und citirte ihr den zweiten Vers:

„Sie hat zwei Aeuglein, die sind braun,
0 Hüt’ Du Dich!
Sie wird Dich überzwerch anschau’n,
0 Hüt’ Du Dich!
Vertrau’ ihr nicht! sie narret Dich!“

„Nun sieh, Kind,“ fuhr die Erzählerin fort, „das beschreibt das Schelmentreiben der Lore, als sei es eigens für sie gemacht! Aber denke Du nicht schlecht von ihr, sie war doch ein liebes, süßes Geschöpf und hatte trotz ihrer vielen tollen Streiche das beste, bravste Herz.

Bei der allgemeinen Bewunderung, die das schöne Mädchen erregte, war es einigermaßen befremdlich, daß der junge Kaufmann Dernau, der sich neben Lorchen’s elterlichem Hause, demselben, in dem wir heute goldene Hochzeit feiern, angekauft, gegen seine reizende Nachbarin kalt und zurückhaltend blieb. Ich neckte sie zuweilen damit, daß er der Einzige sei, der ihrem Zauber widerstehe und der nie mit ihr getanzt habe, nicht ein einziges Mal! Da wurde sie denn stets böse, warf trotzig die rothen Lippen auf und sagte:

‚Mag er doch gehen, Christel, er ist ein Bär!‘

Nun brach aber über das Land eine schwere Zeit herein: die Franzosen wurden die Herren, unser König und die engelschöne Königin Louise mußten mit ihren Kindern flüchten, und wir Alle sollten französische Unterthanen werden. Wir hatten es schlimm, denn unser Städtchen erhielt eine neue Obrigkeit, die den Feinden wohlgesinnt war. Bald hörten wir in der Nähe Waffenlärm, und der heimathliche Friede wurde durch rohe Soldatenhorden gestört.

Ach, Kind, es war schrecklich und traurig zugleich! Der Wohlstand schwand unter dem beständigen Drucke, in Angst und Noth verbrachte man seine Tage.

Für Lorchen aber erwuchs in dieser Zeit noch eine besondere Trübsal. Das ging so zu. Von allen Seiten kam die Kunde, daß die Franzosen eine gar gewaltsame Art hätten, deutschen Schönen die Cour zu machen. Gefiel ihnen ein Mädchen, so ließen sie dasselbe ohne Weiteres durch ihre Soldaten rauben und schleppten die Unglückliche mit fort, hinein in das Kriegsgetümmel. Handlungen der rohesten Willkür waren an der Tagesordnung, gegen Diebstahl und Raub fand man wenig Schutz durch das Gesetz, das von den Franzosen oder deren Helfershelfern stets zu ihren eigenen Gunsten ausgelegt wurde. Was war zu thun? Man versteckte seine Schätze, Geld und Werthsachen vor der Gier der Fremden in hohle Bäume, in Mauern und in die Erde. Selbst Frauen und Töchter verbarg man aus Furcht vor rohen Beleidigungen, wenn Franzosen sich dem Städtchen näherten.

Das arme Lorchen hatte die härteste Zeit; die Mutter sah in ihrer Angst beständig Gespenster und zwang das Mädchen, die meiste Zeit in dem Keller des Hauses zu verbringen. Manch’ einen Nachmittag habe ich ihr dort Gesellschaft geleistet. ‚Schau,‘ sagte ich einmal, ‚durch das Fensterchen hier kannst Du ja direct in den Garten des Nachbars Dernau sehen! Nun, ist’s ein richtiger Bärenzwinger?‘ – Da wurde das Lorchen roth und wandte sich ab.

Eines Tages nun, es war am Sonnabend vor dem Pfingstfeste und ein blühender Maitag wie heute, da durchzog ein großer Trupp Feinde die Stadt. Lore saß natürlich im Keller und führte ein unterirdisches, beschauliches Leben. Als die gefürchteten Partelewuhs zum Thore hinaus waren, wurde die Eingesperrte an’s Licht geholt, und was thut das naseweise Ding? Lehnt sich im Wohnzimmer in’s offene Fenster! Nach der langen Haft war es so wonnig, die würzige Frühlingsluft einzuathmen und dem Treiben auf der Straße zuzuschauen. Aber Unglück schläft nicht! – Sein Pferd, das ein Hufeisen verloren hatte, am Zügel führend, kam ein junger französischer Officier daher. Das reizende Mädchengesicht hinter den Rosen und Gelbveigelein erblicken, seine Zügel einem Jungen zuwerfen und die Treppe hinan stürmen in’s Haus, war nur das Werk eines Augenblicks. Schnell entschlüpfte zwar die Kleine in ihr Versteck, allein was half’s? Der Franzose hatte sie nun einmal gesehen und stürmte wie toll durch’s Haus.

„Ick will die schöne Mäd!“ so schrie er unaufhörlich, und von der zitternden Mutter gefolgt, kletterte er, nachdem er alle Zimmer und auch die Böden vergeblich durchsucht, zuletzt auch in den Keller. Aber o Wunder! Das Nest war leer, das Vögelein entflohen! Durch die vergebliche Haussuchung noch wüthender gemacht, schwur der Officier, er würde am andern Tage mit einer ganzen Schwadron zurückkommen und dann das Mädchen schon finden. Nachdem er im Wohnzimmer noch ein kleines, auf Elfenbein gemaltes Portrait Lorchen’s von der Wand gerissen und zu sich gesteckt, verschwand er unter Verwünschungen und Drohungen.

In Thränen aufgelöst blieb die Mutter zurück, verwirrt und vollkommen rathlos.

Doch wer beschreibt ihre Verwunderung, als plötzlich ihr Nachbar, der junge Dernau, erscheint und sie in aller Form und Feierlichkeit um die Hand ihrer Tochter bittet!

‚Ach Gott,‘ meint die Arme, ‚das Lorchen ist ja verschwunden, sie ist nicht mehr in ihrem Versteck! Und fände ich sie auch heute, was hülf’s? morgen raubt mir der Franzose sie doch! Was fang’ ich Unglückliche an? O, der Krieg, der Krieg!‘

Da hat der junge Mann recht verlegen gelacht und gemeint: „Verlassen Sie sich nur ganz auf mich, Mama – wenn ich Sie so nennen darf! – ich werde das Lorchen schon beschützen, ist sie erst meine Frau! Und im Keller – ist sie doch! Zwar nicht in dem Ihrigen – aber in meinem Keller!“

Er führte die übeeraschte Dame in sein Haus, viele Treppen hinunter. Die jetzt doppelt Gefangene fand sich richtig; ein bischen beschämt und verweint, aber dennoch mit sehr glücklichem Gesichtchen fiel sie der Mutter um den Hals und bat, ihren Karl und sie zu segnen als Brautpaar.

Dann folgte in den beiden Nachbarhäusern allerlei geheimnißvolles Gethue, zuletzt wurde sogar der gute alte Pastor zur Berathung geholt. Spät Abends aber, eine Stunde vor Mitternacht, begab sich das Verwunderlichste, was unser friedsames nüchternes Städtchen je erlebt: in der alten Capelle auf freiem Felde, da vor dem Martini-Thor, wurde bei Nacht und Nebel ein junges Paar getraut.

Lili, Kind, stelle Dir mein Erstaunen vor, als ich geheimnißvoll hergeholt und in der Finsterniß zur Capelle gebracht wurde, um dort zusammen mit Lorchen’s Mutter und Fritz Berger, dem

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_366.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2021)