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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 23.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Brausejahre.
Bilder aus Weimars Blüthezeit.0 Von A. v. d. Elbe.

„Er ist da, Christel! er ist da!“ rief ein frisches hübsches Mädchen, indem es rasch die Thür eines Kämmerchens aufstieß und mehr springend als gehend eintrat.

In dem kleinen Schlafzimmer herrschte noch Dämmerung; das halbe Licht eines Novembermorgens vermochte nicht viel Helle zu verbreiten; kaum erkannte man ein einfaches, weißumhangenes Bett und einige binsenbeflochtene Stühle.

„Aber wie finster ist es noch bei Dir, Langschläferin!“ fuhr die Eintretende fort; sie ging an das Fenster, schlug die Vorhänge zurück, betrachtete fröstelnd den ersten langsam herabflatternden Schnee und trat an das Bett. Eine jugendliche Mädchengestalt richtete sich eben halb empor, öffnete groß die Augen und sagte:

„Wie früh kommst Du, Gustchen, eben graut der Tag, Tante Barbara hat noch nicht angeklopft.“

Auguste von Kalb, die Besuchende, zog einen Stuhl an die Bettkante, setzte sich und ergriff die kleine weiße Hand der Freundin.

Die beiden jungen Mädchen waren sehr verschieden; so frisch, üppig, brünett und lebhaft Gustchen Kalb erschien, so zart, blond und sanft war Christel Laßberg; ihre blauen Augen schimmerten halbversteckt unter schweren Lidern und langen gekräuselten Wimpern; das weiche Oval des Gesichtes, die ruhige Unbeweglichkeit der mattgefärbten Züge bildeten einen Gegensatz zu der lachenden, beweglichen Erscheinung der Andern.

Die frühe Morgenstunde hatte Auguste nicht verhindert, sich festlich zu kleiden, und der weiße Musselinanzug, nach der Mode des Jahres 1775 mit Falbeln ausgeputzt, sowie ein durch die schwarzen, leichtgepuderten Locken geschlungenes gelbes Band stimmten vortrefflich zu dem Roth der bräunlichen Wangen.

„Ich habe Dir unendlich viel zu erzählen!“ sagte sie hastig, mit den Fingern der Freundin spielend. „Gestern Nachmittag, nachdem Du fortgegangen warst, kam ein Expresser von meinem Bruder, welcher meldete, daß er und sein Gast die Nacht durch fahren und heute früh bei uns ankommen würden.“

„Ah! heute?“ sagte Christel, indem sie sich etwas mehr aufrichtete.

„Ja, ja! und sie sind da! Aber höre mich ruhig an, denn ich muß Dir von einer sehr wichtigen Unterredung mit Papa erzählen. Kaum war des Boten Brief eine halbe Stunde in Papas Händen, so ließ er mich rufen. Als ich eintrat, sah ich, daß die Eltern augenscheinlich eine wichtige Besprechung gehabt hatten. Frau Mama saß auf dem Thron am Fenster, und Herr Papa in seinem gelbblumigen Hausrocke ging im Zimmer umher und ruckte so arg mit dem Kopfe, daß der Haarbeutel bald über dem rechten, bald über dem linken Ohre erschien, und das hat immer etwas zu bedeuten. Ich stand und machte meinen Knix, küßte Papa die Hand und fragte, was er befehle?

Er räusperte sich, ja, er klopfte mir die Wange, und Mama wurde roth. Endlich sagte er: ‚Gusta, mein Kind, Dein Bruder kommt zurück und wird einen Gast mitbringen, der ein Freund Seiner Durchlaucht unseres allergnädigsten Herzogs ist, – daher eine Ehre für uns, ihn zu empfangen; man muß ihm das Haus angenehm machen, hörst Du, Gusta! Jugend gesellt sich gern zur Jugend, Dir wird es also dann und wann obliegen, den jungen Mann zu unterhalten.‘ – Mein Herz klopfte vor Vergnügen bei diesem Auftrage! – ‚Nun aber erheischt es meine Vaterpflicht, Dich zu warnen; dieser Doctor Wolfgang Goethe soll ein wilder, unbändiger Jüngling sein, absonderlich gefährlich für jedes wohlgebildete Frauenzimmer; hüte Dich also, nicht zu Denen zu gehören, von welchen er in Büchern schreiben kann! Hüte Dich auch, keinen Gedanken an die Möglichkeit ehelichen Bündnisses aufkommen zu lassen; denn trotzdem er der erwählte Freund unseres Herrn Herzogs Durchlaucht sein soll, ist er nur ein Frankfurter Bürgerssohn und die Verbindung mit einem solchen für ein adliges Fräulein nimmermehr zulässig.‘

Ich schwieg ergeben lauschend, der Papa fuhr, das Haupt bedächtig wiegend fort:

‚Wenn nicht alle Zeichen trügen, wird dieser Herr Wolfgang Goethe für die nächste Zeit der einflußreiche Freund Seiner Durchlaucht werden. Als unser gnädigster Fürst im Winter mit dem Prinzen Constantin und Herrn von Knebel in Paris war, besuchten sie auf der Durchreise den jungen Goethe in Frankfurt. Nachher trafen sie sich wieder in Mainz und ein absonderliches Wohlgefallen an dem Doctor bestimmte unsern Herrn Herzog, ihn zu sich einzuladen; mein Sohn wurde jetzt beauftragt, ihn abzuholen; man estimirt ihn also auffällig genug; er wird hier sehr in seiner Assiette sein –‘

Papa räusperte sich: ‚Ich bin ein alter Mann,‘ fuhr er in kläglichem Tone fort, ‚meine Amtspflichten werden mir täglich lästiger, die Art und Weise der jetzigen Regierung stimmt nicht mehr zu mir, ich sehe mich nach einem Nachfolger um! Aber es ist mir nicht gleichgültig, wer meinen Platz einnimmt; das Glück des Landes hängt von der würdigen Besetzung dieses hohen Postens ab; meine Pflicht ist es, dem Herrn Herzoge einen tüchtigen Mann vorzuschlagen. Dein Bruder ist bereits Kammerjunker und hat mich in meinen Geschäften oftmals unterstützt, in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_373.jpg&oldid=- (Version vom 9.10.2022)