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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Schieferdächern bedeckten Eckthürme lugten. Die grauen Mauern mit den in größter Regellosigkeit angebrachten Fenstern würden sich sicherlich viel weniger romantisch ausgenommen haben, hätte das stellenweise sie verdeckende Baumgrün nicht ein Element des Malerischen dem Bilde eingefügt. Damals, wenn Raban sein Auge darüber hinschweifen ließ und die Rüsternallee verfolgte, die zwischen Wiesengründen bis zu den breiten schlammigen Gräben des alten Castellwesens führte – hatte er nur wenige Augenblicke lang seine Gedanken dort verweilen lassen. Das flüchtige Entflammen seines Herzens für die kleine Herrin von Archolt war ja halb vergessen.

Die Zurückhaltung des Vaters gegenüber den Bewohnern des Gutes schien wohlbegründet durch das, was ihm derselbe über sie mitgetheilt hatte – erst jetzt, wo er als gereifter Mann nachdenksamer Natur geworden, fand er in jener Mittheilung manches nicht Aufgeklärte. Und nun sollte gerade dort, auf Arholt, ein wichtiger Münzfund gemacht worden sein, von dem er nie hatte reden hören. Doch weshalb nicht, da ja jede Verbindung zwischen Mureck und Arholt abgebrochen war? Und alte spanische Münzen, auch seltenste, älteste, weshalb sollten sie nicht in einem Winkel solch einer alten Burg gefunden worden sein? Im Dreißigjährigen Kriege waren spanische Truppencorps, Marodeure, raubgierige „Landstorger“, eine wahre Volksplage, ein allgemeiner Landschaden in seiner Heimath gewesen. Aus den Niederlanden waren sie herüber gewechselt und hatten ihr Wesen getrieben, bis sie das Volk gegen sich in den Harnisch gebracht, bis sie, von den zusammengeschaarten Bauern angegriffen, geschlagen, sich in die nächstbeste Burg geworfen und dort vertheidigt hatten. Da mochte denn oft genug, ehe die Bande capitulirend abzog, einer der Ihrigen oder sie Alle die beste Beute vor der erzwungenen Herausgabe zu sichern gesucht und irgendwo in gutem Verstecke verscharrt und verborgen haben – bis zur Rückkehr in günstigeren Tagen, die nicht stattfand. Man fand ja öfter in den alten Häusern, in Kellern, Mauerfundamenten so etwas. Nur seltsam war es, wie solch ein auf Archolt gemachter Fund in das kaiserliche Cabinet in Wien gerathen war. Die Familie galt ja als reich – sehr reich sogar, meinte Raban wiederholt gehört zu haben. Hatte sie nicht den Ehrgeiz, so merkwürdige Gegenstände, deren Geldwerth in ihren Augen gering sein mußte, bei dem übrigen edlen Väterhausrath aus der Vergangenheit aufzubewahren?

Erst ein zufälliger Blick auf eine Anschlagsäule entzog Raban diesen Gedanken. Da stand mit großen Lettern angekündigt als Oper des heutigen Abends „Der Prophet“. Raban kannte die Oper nicht und sollte sie mit den Eibeheims – die Eibenheims hatten heute ihren Logentag – sehen. Sie lenkte seine Gedanken anderen Dingen zu: dem bizarrsten Charakter der Geschichte als Helden eines Kunstwerks, dem wunderlichen Widerspruche zwischen der Geschichte und der Kunst. Wenn die Weltgeschichte das Weltgericht war, so bildete die Kunst eine höhere Instanz, die nach dem Codex der poetischen Gerechtigkeit die Urtheile der Geschichte umward und die großen Verbrecher zu ihren Helden machte. Die Wahrheit kam dabei freilich zu kurz, aber – was ist Wahrheit? Ist nicht am Ende Alles wahr, was geglaubt wird? Ob etwas in der Menschen Köpfen oder ob es in der Wirklichkeit lebt oder vorhanden war – ist es nicht dasselbe? Aus dem Zusammenspiel und Ineinanderwirken von vorhandenen Dingen und von bloßen Vorstellungen webt sich das Leben. Raban nahm sich lächelnd vor, Graf Kostitz als geflügeltes Wort den Satz vorzuschlagen: „Wahr ist, was geglaubt wird!“

Als er am Abende die Loge der Eibenheims betrat, fand er Frau von Eibenheim mit ihren Töchtern bereits angekommen, Leni in einer blendenden Toilette, deren raffinirte Zusannnenstellung Raban nicht entging. Er meinte, um Kunstgenüsse auf sich wirken zu lassen, solle man sich überhaupt nicht herausputzen, wie man sich für die Kirche nicht putze, da man mit dem Vorsatze der Selbstentäußerung und der Hingabe des Ichs an ein Höheres komme und in eine Welt der inneren Weihe doch nicht mit langen Schleppen und hochtoupirten Frisuren eintreten dürfe.

„Man kommt aber doch, um zu bewundern und bewundert zu werden,“ antwortete Leni und setzte mit kokettem Schmollen hinzu: „und findet sich oft genug in Beidem getäuscht! –“

„Um so in desto bessere Stimnnmg für die Aufnahme der Tragödie zu gelangen!“ sagte Raban ungerührt von diesem Vorwurfe.

Die musikalische Tragödie, welche sich vor ihnen entwickelte, versetzte ihn selbst in eine sehr ernste Stimmung. Die düsteren Chöre der gläubigen Männer auf der Bühne zogen ihm mit einer erschütternden Gewalt durch die Seele. Bewegt davon sprach er in den Zwischenacten von der historischen, hier völlig, ja ganz unglaublich entstellten Unterlage der dramatischen Handlung. Diese müsse noch ihren Dichter finden, ihren Shakespeare, meinte er. Es sei hier zu der großartigsten Tragödie der Rache der Kern von der wirklichen Geschichte gegeben. Jene Männer, deren Propheten man auf der Bühne sehe, stellten die Träger einer Bewegung, die Bekenner einer religiösen Ueberzeugung vor, welche die folgerechte Weiterentwickelung der Lehre des sechszehnten Jahrhunderts gewesen, – einer religiösen Ueberzeugung, welche heute so ungefähr das Gemeingut aller religiösen Naturen von tieferer Bildung geworden. Damals aber habe man diese Menschen mit Feuer und Schwert, mit schonungsloser Wuth verfolgt, hingemordet, geschlachtet zu Tausenden. So habe man die Empörung, die grenzenlose Erbitterung in ihnen großgezogen, den Schrei nach Rache auf ihre Lippen gelegt, den wahnsinnigen Durst nach Wiedervergeltung an den Gottlosen in ihnen genährt. Und so sei dies bizarre Prophetenkönigthum entstanden, das hier statt eines Shakespeare ein Scribe auf seine Art begriffen und behandelt habe.

Seine lebhafte Auseinandersetzung, was ein großer Dichter aus dieser Tragödie der Rache hätte machen können, fand wenig aufmerksames Gehör bei seinen Damen in der Loge. Von Freunden und Bekannten, welche zur Begrüßung eintraten, unterbrochen, schwieg er. Aber er war noch jugendlich genug in seinem Fühlen, um dadurch erkältet zu sein – er hätte aus den Wogen der ernsten Musik Leni’s Seele auftauchen sehen mögen wie einen zu jedem Fluge in’s Reich des Ideals bereiten Schwan, und nun plauderte sie mit dem eben eingetretenen Marinelieutenant sehr lebhaft über die Gründe, weshalb die Marchesi Wien verlasse und nach Paris gehe. Es war nichts Schwanenhaftes in – diesem Geschnatter! Raban sagte sich nicht just das – aber gedankenverloren blickte er auf die strahlende, lichtübergossene Scenerie. Wie jugendlich in all seinem Fühlen, so war er noch naiv und unerfahren genug, sich verwundern zu können. Er verwunderte sich, wie man ergreifenden Dingen so wenig Interesse entgegenbringen könne; wie man an die furchtbare Grausamkeit der Menschennatur erinnert werden könne, ohne bewegt zu werden, und wie er neulich seine Verwunderung über die Härte der Glücklichen gegen die Unglücklichen ausgesprochen, so empfand er jetzt einmal wieder eine erstarrende Verwunderung über die Thatsache jener Grausamkeit, deren schreckhafte Bilder ihm vor die Seele getreten waren ... er verwunderte sich endlich über das ganze Räthsel dieses widerspruchsvollen Menschenlebens – und nicht zum wenigsten, ganz zuletzt, über seine Neigung für Leni Eibenheim! –


4.

Es war als ob Raban von der Erinnerung an seine Knaben-Abenteuer nicht losgelassen werden sollte, denn, seltsam genug in der großen Stadt, schon zwei Tage später sah er die Unbekannte, die er zuletzt als elegante Reiterin erblickt, in einer andern Stadtgegend wieder. Es war in der Währingerstraße, in welche er hineinschritt, um einem dort wohnenden Bekannten einen Besuch zu machen; nachdem er eine Strecke gegangen, sah er sie raschen elastischen Schrittes ihm entgegenkommen. Sie war in demselben bescheidenen dunklen Anzuge, in welchem er sie zuerst gesehen – die Amazone war völlig abgestreift. Raban blieb stehen – vor dem nächsten Laden; er wandte anscheinend seine ganze Aufmerksamkeit hier der Ausstellunng von Klempnerwaaren zu, um, ohne aufzufallen, bei ihrem Näherkommen den Blick auf ihre Züge richten und diese sich einprägen zu können. Eine eigenthümliche Bewegung bemächtigte sich seiner, als sie an ihm, ohne seiner zu achten, vorüberging – ihr Blick war gesenkt, und es lag ein Ausdruck tiefen ernsten Sinnens auf ihrem Gesichte, ein schwermüthiger Ausdruck, mit dem sie, zerstreut und die Umgebung nicht achtend, durch die Menge schritt. Aber in diesen Zügen lag etwam von so milder Seelenhaftigkeit, in der weichen Anmuth der Linien des ovalen Kopfes mit dem zarten nur wenig gerötheten Teint lag ein solcher Wiederschein innerer Reinheit und Klarheit, daß

Raban davon mit jenem Gefühle erfüllt wurde, das nichts

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_459.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2022)