Seite:Die Gartenlaube (1884) 479.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

solchen, die mit starkem Fieber, großen Schmerzen oder anderen heftigen Erscheinungen eintreten, sondern auch, und gerade erst recht bei solchen, die sich mehr schleichend, mit allgemeinen Befindensstörungen, wie Appetitmangel und schlechter Verdauung, Mattigkeit oder Aufgeregtheit, bleicher oder übermäßig rother Gesichtsfarbe, mit Athembeschwerden, Herzklopfen, mit unerquicklichem Schlaf, ängstlichen Träumen oder Schlaflosigkeit einfinden. Hinter solchen oft gering geachteten Erscheinungen verbergen sich nicht selten die ersten Anfänge sehr ernster Krankheiten. Ihre frühzeitige Erkennung stellt die höchsten Anforderungen an die Beobachtungsgabe, den Scharfsinn und die Erfahrung des Arztes, damit sie entweder in ihrem ersten Beginn beseitigt, oder wenigstens durch angemessenes Verhalten, Regelung der Lebensweise etc. zu einem gelinderen und weniger gefährliche Verlaufe gebracht werden. Oft ist hierbei nichts weiter nöthig, als die Vermeidung von Schädlichkeiten und dem jedesmaligen Zustande angemessenes Verhalten in Bezug auf Ruhe oder Bewegung, Enthaltsamkeit, Pflege u. dergl. m., aber es ist offenbar, daß auch zur sicheren Bestimmung solcher Maßregeln nur derjenige befähigt ist, der die betreffende Persönlichkeit ebenso wie die etwa zu erwartende Krankheit genau kennt.

So ist es z. B. bei der Ernährung und gesammten Körperpflege der Kinder, bei oft noch gutem Befinden derselben, der Gesundheitszustand der Mutter, des Vaters, der Geschwister oder anderer Verwandten, der den aufmerksamen Arzt zu nützlichen, die Gesundheit sichernden und Krankheit verhütenden Rathschlägen veranlaßt, deren Nichtbeachtung schlimme Folgen nach sich ziehen kann. Oder wir haben es mit körperlicher oder geistiger Ermattung in den Schuljahren, bei Vorbereitung zum Examen, oder bei anstrengenden Berufsarbeiten u. dergl. m. zu thun, wo durch rechtzeitige Regelung der Lebensweise schwere und oft langwierige Leiden zu verhüten sind. Das ist indessen keineswegs so leicht und einfach, wie es bei oberflächlichen Kenntnissen und nach manchen populären Darstellungen erscheinen mag. Denn wenn in vielen Fällen nur Ruhe und Pflege, deren Art und Weise aber auch sehr verschieden nöthig sein kann, in andern Fällen dagegen Zerstreuung, Beschäftigung, Anspornung der Körper- und Geisteskräfte, bald warmes, bald kühles Verhalten, bald warme, bald kalte Bäder, Abwaschungen, Milch- oder Brunnencuren in vielfachen Modificationen das richtige Mittel abgeben, kann in sehr vielen anderen Fällen durch das gleiche Verfahren unersetzlicher Schaden angerichtet werden. Und zwar ist letzteres besonders dann der Fall, wenn solche Störungen des Befindens, die noch nicht als Krankheit angesehen werden, in Wirklichkeit den Anfang einer schweren Krankheit bilden. Letzteres kann freilich auch ein geschickter Arzt nicht immer auf den ersten Anblick erkennen und voraussagen; aber er weiß wenigstens die Mittel und Wege, wie man möglichst rasch zu richtiger Einsicht kommt, und weiß außerdem, was vielleicht noch wichtiger ist, zu verhüten, daß etwas Verkehrtes geschieht.

Auch in letztgenannter Richtung wird von Nichtärzten häufig gefehlt. Die Beunruhigung vor einer hereinbrechenden Krankheit, der Drang zu helfen und die Angst, etwas zu versäumen, sind oft so groß, daß nicht selten das Allerunzweckmäßigste geschieht. Am gefährlichsten hat sich dies, meinen eigenen Erfahrungen nach, in Cholera-Epidemien gezeigt, wo Jedermann einen beginnenden Durchfall, der als Vorbote oder Anfang der gefürchteten Krankheit angesehen wird, so rasch wie möglich zu stopfen suchte und deshalb vielfach sogenannte Choleratropfen oder ähnlich wirkende Mittel anwendete, die in den Familien vorräthig gehalten wurden; gelang es dann wirklich, die Entleerungen aufzuhalten, so folgte in der Regel eine sehr böse Form der Krankheit, weil das Choleragift, als dessen Träger wir durch Robert Koch’s unsterbliches Verdienst jetzt den Cholerapilz oder Kommabacillus kennen gelernt haben, in dem stockenden Darminhalte den besten Raum und Boden für eine riesige Vermehrung findet.

Hier wie bei vielen anderen mit gährungsartigen Zersetzungen (und Pilzbildungen) im Darminhalt beginnenden Krankheiten, z. B. auch bei den aus Ueberladung oder verdorbener Nahrung (auch Milch bei Kindern!) hervorgehenden Krankheiten, ferner beim Unterleibstyphus, der Ruhr u. dergl. m., ist es gerade von größter Wichtigkeit, daß die schädlichen Stoffe so rasch und so vollständig wie möglich entfernt werden. Geschieht das von selbst, so darf man es nicht hindern, vielmehr eher durch reichliches Wassertrinken etc. befördern; geschieht es nicht von selbst, so muß man der Natur zu Hülfe kommen, – aber bei Leibe nicht durch irgend ein beliebiges Abführmittel, weil jede Reizung des Darms die Gefahr vergrößert, sondern man soll dem Arzte überlassen, je nach der Art der Krankheit und nach der Natur des Kranken die passenden Mittel auszuwählen, die nicht zu viel und nicht zu wenig wirken dürfen und womöglich das Krankheitsgift zugleich unschädlich machen, vielleicht den betreffenden Pitz tödten. So können Ruhr und Typhus ebenso wohl durch stuhlanhaltende Mittel, als auch durch reizende Abführmittel, z. B. durch die Schweizerpillen und ähnliche Hausmittel, viel schlimmer gemacht werden, als wenn man die Kranken sich selbst überlassen hätte. Bei der Cholera habe ich selbst in drei großen Epidemien diejenige, die durch solche Mittel den Beginn der Krankheit verhindern oder abschneiden wollten, fast ausnahmslos sterben sehen, während rechtzeitig eingeleitete und richtige Behandlung die große Mehrzahl zu retten vermochte.

Aus diesen Erfahrungen, die leicht durch viele andere bei verschiedenen Krankheiten vermehrt werden könnten, folgt als erste und wichtigste Regel, daß der Nichtarzt sich hüten soll, durch falsch angewendete Mittel zu schaden, – als zweite Regel, daß man so früh wie möglich den Arzt rufen soll, der gar oft im Stande ist, eine beginnende Krankheit im Keim zu ersticken oder doch einen milderen Verlauf derselben zu sichern.

Nur zwei andere Beispiele mögen zeigen, daß diese beiden Regeln nicht blos für solche rasch verlaufende Krankheiten gelten.

Ein Schulmädchen in den Jahren des rascheren Wachsthums der Wirbelsäule, also etwa vom zwölften bis fünfzehnten Lebensjahre, fängt an, sich schlecht zu halten; am Schreibtisch und bei Handarbeiten sitzt sie krumm, statt der Brust wölbt sich der Rücken, eine Schulter steht etwas höher, ein Schulterblatt, wohl auch eine Hüfte tritt etwas hervor. Durch Ermahnungen, sich gerade zu halten, wird wenig genützt, denn entweder fehlen die Kräfte, um ihnen dauernd zu gehorchen, oder der arbeitende Kopf vergißt, die Rückenmuskeln in gehöriger Spannung zu halten. Jetzt wird ein festes Corset verlangt, um dem Körper Haltung zu geben, oder es wird auch wohl von irgend einem Bandagisten ein Geradehalter bezogen. Das hilft aber nicht, denn die Schultern entweichen nach oben, der Leib neigt sich nach einer Seite, die Stützen und Schnürapparate stützen und hindern nicht dort, wo sie sollen, sondern machen die Biegungen und Drehungen mit, oder hindern wohl gar die Rippen in ihrem gesetzmäßigen Wachsthum. Nach einiger Zeit ist die Schiefheit nicht mehr zu verkennen und es hat sich wohl noch gar eine enge, flache und schmale Brust dazu ausgebildet. Nun endlich wird, was sogleich hätte geschehen sollen, der Arzt gefragt, der dann nur feststellen kann, daß Rückenwirbel und Rippen bereits Formveränderungen erlitten haben, die vielleicht nur theilweise rückgängig gemacht, vielleicht auch nur in weiterem Fortschreiten aufgehalten werden können, wenn zu diesem Zweck eine langwierige und kostspielige Cur unternommen wird, die sich nur ausnahmsweise im Elternhause durchführen läßt. Und wie gut hätte das ganze Leiden, das nicht blos als Schönheitsfehler, sondern als Hinderniß kräftiger Körperentwickelung, besonders der Brust mit Herz und Lungen, so viel körperliche und seelische Leiden im Gefolge hat, verhütet werden können, wenn es gleich im Entstehen zweckmäßig bekämpft worden wäre!

Oder es handelt sich um die Anfänge einer Geisteskrankheit. Wir bemerken bei einem unserer Angehörige, vielleicht in Folge von großen Anstrengungen, Gemüthsbewegungen, Krankheiten, oder auch ohne daß dergleichen vorangegangen wäre, Aenderungen in seinem psychischen Verhalten, die mit seinem sonstigen Wesen nicht in Einklang stehen und auch durch die Ereignisse des äußeren und inneren Lebens nicht oder doch nicht hinlänglich begründet sind. Diese Aenderungen können rasch ober langsam, stark oder schwach auftreten, andauern oder mit ganz gesunden Zeiten abwechseln, und sind sehr mannigfaltig. Der Betreffende kann niedergeschlagen oder ausgelassen, ängstlich oder übermüthig, gleichgültig oder durch Geringes erregbar, unbeweglich oder unruhig sein, mit Selbstvorwürfen sich plagen oder sich überheben, traurig die Einsamkeit suchen und weinen, oder heiter und launig sein; er kann über Schmerzen und Beschwerden klagen, oder sich wohl fühlen, wie nie zuvor. Dabei kann er (oder sie) zwischendurch

theilnehmend und liebevoll sein, seine Geschäfte gut besorgen etc.,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_479.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2022)