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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

erschrecken und bestimmen mußte, in seinen Geständnissen inne zu halten, sie zurückzunehmen. Und es kam doch Alles darauf an, ihn sich ganz erklären und aussprechen zu lassen.

‚Was würde man einfach?‘ fragte er.

‚Als Vater des Knaben Ihre Rechte achten müssen,‘ antwortete ich, ‚aber man würde Sie vielleicht zur Rechenschaft ziehen wegen der von Ihnen ausgeübten bisherigen Täuschung der Großmutter, der obervormundschaftlichen Behörde . . .‘

‚So, so – das würde man? Und würde das so schwer genommen werden?‘

‚Hinreichend,‘ entgegnete ich, ‚um mir für Sie räthlich erscheinen zu lassen, den Knaben auszuliefern und dagegen sich eine Erhöhung Ihres Jahrgelds versprechen zu lassen, welche Sie dann am besten thäten, im Auslande zu verzehren, außerhalb des Bereichs der Gerichte, welche Ihnen Schwierigkeiten bereiten könnten . . .‘

‚Hm,‘ meinte er darauf hin. ,Das wäre doch nicht, was ich wollte. Das könnte mich nicht locken, mein Herr von Mureck, durchaus nicht . . .‘

‚Ueber das, was am räthlichsten für Sie wäre,‘ fuhr ich fort, ‚läßt sich ja aber später sprechen; es läßt sich überlegen – das Nöthigste ist jetzt, daß Sie mir sagen, wo sich der fragliche Knabe befindet, wo Sie ihn haben.‘

‚Wo ich ihn habe?‘ entgegnete er, mich lange sinnend und wie zerstreut anblickend. Und dann lachte er kurz und gezwungen auf: ‚ja, wo ich ihn habe! Das möchten Sie wissen!‘

‚Freilich möcht’ ich das wissen, muß es wissen!‘

‚Ich bedaure, Ihre Neugier nicht befriedigen zu können,‘ sagte er mit einem Seufzer und plötzlich aufstehend.

‚Und Sie glauben, ich würde Sie gehen lassen – jetzt gehen lassen, ohne von Ihnen gehört zu haben . . .‘

‚Sie werden nichts mehr von mir hören. Das, was ich von Ihnen gehört habe, genügt mir fürs Erste. Ich sehe, daß vorläufig für mich hier nichts zu holen ist. Wann Sie Weiteres von mir hören werden, müssen Sie abwarten, mein Herr von Mureck. Damit empfehle ich mich Ihnen und lasse die respectvollsten Grüße an meine verehrte Schwiegermutter vermelden. Leben Sie wohl!‘

‚Halt – ich kann, ich darf Sie nicht gehen lassen, bevor Sie gestanden haben, wo . . .‘

‚Vertreten Sie mir den Weg nicht, Herr,‘ rief er, zornig auffahrend, aus – ‚Sie können mich zu Ihrem Hause hinauswerfen lassen, dazu bestreite ich Ihnen das Recht nicht, aber Sie haben kein Recht, mich darin gefangen zu halten – fort da!‘

Ich hatte freilich kein Recht, ihn gewaltsam zurückzuhalten, ich mußte ihn seines Weges ziehen lassen. Er verschwand und ließ mich in der größten Aufregung zurück. Was sollte ich thun – sofort zu der alten Dame auf Arholt fahren und ihr die Andeutungen, welche er mir gemacht, mittheilen? Die arme Frau, welche mit so unendlicher Zärtlichkeit an ihrer Marie hing, hätte den Tod davon haben können. Mich an die Gerichte wenden, an die Polizei, damit dieser Melber zurückgehalten werde? Er konnte die ganze Unterredung, welche er mit mir gehabt, ableugnen. Nein – ich konnte nichts thun, als mir selber Vorwürfe machen, daß ich in der Aufregung, in welche mich seine Geständnisse versetzt, ein so jämmerlich schlechter Diplomat gewesen. Mit einiger Klugheit und Gewandtheit hätte ich meine Antworten so eingerichtet, um ihn zu ermuthigen, sich rückhaltlos und ganz auszusprechen, um mir Alles zu gestehen. Statt dessen hatte ich ihn erschreckt, sein offenem Herausgehen zurückgescheucht, ihm Furcht vor den Folgen seines Verbrechens eingejagt – ich war sehr dumm gewesen. Aber freilich war ich auch so völlig unvorbereitet auf das, was ich zu hören bekommen hatte.

Ich konnte als discreter und behutsamer Mensch trotz allen Kopfzerbrechens über die Sache nichts thun, als am andern Tage Frau von Tholenstein die Kunde zu bringen, daß die Unterredung mit Melber stattgefunden habe und daß sie befriedigend verlaufen sei, insofern der ehemalige Schauspieler eingesehen, daß sein Verhältniß zu der Familie durch den Tod Martin’s in nichts verändert sei, daß er gegangen, ohne mit weiteren Anforderungen, wie etwa dem Verlangen einer Erhöhung seines Jahrgehalts, lästig zu werden. Frau von Tholenstein wurde nun durch diese Anspruchslosigkeit ihres Schwiegersohns gerührt. Ihre Melanie habe doch diesen Menschen einst geliebt, sagte sie, und er müsse sich doch unglücklich fühlen, da er so allein stehe in der Welt, geschieden von seinem Kinde, welches er jetzt nicht einmal zu sehen bekommen habe, welches nicht einmal seinen Namen trage. Ich hatte Mühe, Frau von Tholenstein abzuhalten ihm aus freien Stücken sein Jahrgehalt zu vermehren. ‚Eben dadurch,‘ sagte ich ihr, ‚daß er gar nicht verlangt hat, sein Kind zu sehen, zeigt er am besten, daß er sein Alleinstehen in der Welt und sein Lebensloos guten Muths erträgt!‘

Woher die Gleichgültigkeit gegen Marie, nach der er bei der alten Frau auf Arholt nicht einmal gefragt zu haben schien, bei ihm rührte – das wußte ich ja jetzt nur zu gut mir zu deuten.

Und dann harrte ich, harrte wochenlang auf das, was ich nun erwartete, auf weitere Schritte, die Melber thun würde. Er mußte doch nun weiter von sich hören lassen, in seinem Interesse, im Interesse seines Knaben. Es hätte keinen Sinn für ihn gehabt, die Interessen seines Kindes länger auf sich beruhen zu lassen, nachdem er von dem Irrthum geheilt war, der ihn sein Verbrechen hatte begehen lassen – von dem Irrthum, daß er mit dem Knaben den künftigen Herrn und ausschließlichen Erben von Arholt in seiner Hand und in seiner Gewalt behalte. Nachdem er von diesem Irrthum zurückgekommen war, mußte es ihn drängen, die Geburtsrechte seines Kindes geltend zu machen – so bald als irgend möglich!

Aber es wurde nichts weiter von ihm gehört. In meiner Unruhe um die Sache, in die ich, und ich allein mich eingeweiht fand, that ich Schritte, um Nachforschungen nach dem Herrn Melber anstellen zu lassen. Es war nicht leicht, zu Nachrichten über ihn zu gelangen. Seine Jahresrente wurde ihm durch ein Bankhaus in Prag ausgezahlt, aber er lebte nicht in Prag. Endlich wurde ermittelt, daß er in Wien lebte, in der Familie seines Bruders, derselben, in welcher Melanie Tholenstein einst seine Bekanntschaft gemacht hatte. Die ehemalige Gesangslehrerin war schon seit Jahren kränklich und siech geworden; ihr Mann setzte in Wien sein Geschäft als Graveur fort, aber ohne Glück und viel Kundschaft; sie lebten in dürftigen Umständen; es mochte der Jahrgehalt des jüngeren Bruders da das Meiste thun müssen, um auszuhelfen. Ein Kind war da, ein Knabe – er war völlig vom selben Alter wie Marie Tholenstein, und für diesen Knaben schien der ehemalige Schauspieler eine besondere Zärtlichkeit zu hegen, auch schien er, da die kranke Mutter sich wohl nicht um ihn kümmern und der Vater sich wegen seiner Arbeit wenig seiner annehmen konnte, zur Obhut und Aufsicht dem Onkel völlig überlassen. Man sah den beschäftigungslosen ehemaligen Schauspieler gewöhnlich von dem Knaben – es war ein kräftiger, sehr hübscher Junge mit einem Kopf voll dichten dunklen Kraushaares – begleitet, wenn er kleine Vorstadttheater besuchte, oder seine Zeit damit zubrachte, im Prater mit dem Kleinen an der Hand vor den Schaubuden zu stehen und zu gaffen. Von Zeit zu Zeit, während der guten Jahreszeit, verschwanden auch Beide für mehrere Tage, oft auch wochenlang, aus Wien. Sie mochten dann irgendwie auf Streifereien durch die benachbarten Landschaften die frische Bergesluft athmen und auf ihre Weise sich der Sommerlust hingeben.

Das war es, was ich mit einiger Mühe und leidlichem Geldaufwand über den Thaliajünger ermittelte. Es genügte, um aufs Schönste Dasjenige zu ergänzen, was in seinem halben Geständnisse dieser Mann mir bekannt hatte. Ganz ohne Zweifel hatten diese Menschen ihre Kinder verwechselt; Melber hatte eine Tochter seines Bruders, des Graveurs, als Melanies Kind ausgeliefert; man hatte dadurch dem Mädchen alle Vortheile einer besten und sorglichsten Erziehung gesichert; unterdeß hatte er den Knaben Melanies in seiner Obhut bei sich behalten, um sich alle Vortheile zu sichern, welche ihm seine väterliche Gewalt über den Erben von Arholt gab.

Freilich, als immer mehr Zeit verstrich, als eine Woche, ein Monat nach dem andern verfloß, ohne daß Melber etwas hätte von sich hören lassen, um endlich zu Ergebnissen und Früchten seines verbrecherischen Handelns zu gelangen und seines Kindes Rechte geltend zu machen, mußten mir Zweifel kommen, ob die Deutung, welche ich mir machte, die richtige sei. War es denn nicht auch möglich, daß der unselige Mensch einem in ihm aufgestiegenen Gedanken, den die Unterredung mit mir in ihm

hervorgerufen, Worte gegeben hatte, um in boshafter Weise zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_491.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2022)