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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


ausgebildetem Talent und sehr, sehr geringer Idealisirung ihres Wesens kennten, würden Sie anders denken über die Macht der Talentübung zur Veredlung der Menschen.“

Marie sagte das mit einem Seufzer, als ob eine persönliche Erfahrung ihr diese Worte auf die Lippen lege. Dachte sie an ihren jungen Lehrer Wolfgang Melber? Raban sagte sich, daß er allerdings im Stande sein dürfte, seine Theorie bedenklich zu erschüttern, wenn der Eindruck ihn nicht täuschte, den ihm bis jetzt der junge Bildhauer gemacht.

Die Stiftsdame unterbrach das Gespräch über die Kunstübung, das ihr kein behagliches schien, als ob sie von den Modellirversuchen ihrer Nichte nicht gerade erbaut sei. Sie fragte Raban nach seinen Beziehungen und Bekanntschaften in Wien. Sie selbst sei von allen Beziehungen durch ihre Krankheit so abgeschlossen, daß sie auf den allerkleinsten Kreis beschränkt sei. Den Eibenheim’schen Kreis kannte sie nur vom Hören-Sagen. Raban umging ihn zu schildern und verabschiedete sich in dem Gefühl, nicht länger die Kräfte der alten Dame in Ansprnch nehmen zu dürfen. Die Stiftsdame forderte ihn lebhaft auf, seinen Besuch bald zu wiederholen.


8.

Raban sah von diesem Tage an Marie Tholenstein sehr oft. Er konnte sich nicht schmeicheln, daß seine Aeußerungen, die sie mahnen sollten, nicht zu selbstverleugnend von ihrem künstlerischen Talente zu denken, einen großen Eindruck auf sie gemacht. Aber er fand sie ziemlich regelmäßig an ihrem Modellirstuhl in dem Atelier Melber’s, wenn er in dieses kam, um nach dem Fortschreiten der für ihn bestimmten Arbeit zu schauen. Immer lebhafter und immer mehr von einem wachsenden wechselseitigen Vertrauen belebt wurden dann ihre Unterredungen, Marie vertraute bald sogar einige ihrer Pfleglinge Raban an und sandte ihn oft in weit entlegene Regionen, wohin er mit dem frohen Gefühl, ihr solche Last abnehmen zu können, hinauseilte. Aber freilich, ein ihnen doch nahe liegendes Gebiet der Erörterung und Besprechung mußten sie in Wolfgang Melber’s Atelier ruhen lassen. Es war das sich so natürlich aufdrängende der großen socialen Fragen, der Frage nach den Mitteln, durch gesellschaftliche Einrichtungen von Grund aus den Leiden vorzubeugen, gegen welche die vereinzelte Kraft der Wohlwollenden nicht ausreichte. Wolfgang Melber unterbrach dann stets mit spöttischen Bemerkungen und bezeichnete diese Pläne als Utopien barmherziger Seelen, die ihr Vergnügen darin fanden, sich ausbeuten zu lassen. Er sah eine Beschäftigung darin, die so gut wie jede andere zum Steckenpferd werde. Das Gespräch über diese Gegenstände mußte darum weiter geführt werden in dem Salon der Tante Stiftsdame, in welchem Raban jetzt ein Paar Mal in der Woche erschien und stets herzlicher Aufnahme begegnete. Dem Herrn Wolfgang Melber schien die Tante auch nicht sehr geneigt; nicht allein erschien er niemals bei ihr, es glitt auch über das blasse Gesicht der alten Dame jedesmal ein Schatten, wenn seiner erwähnt wurde. Auch stimmte sie nie Raban bei, wenn dieser seine lebhaften Reden hielt, welche Marie mahnen sollten, über ihrem barmherzigen Schwesterdienst ihre Kunstausbildung nicht zu vernachlässigen. Sie schwieg dazu. Sie fragte auch niemals nach dem, was Marie in Melber’s Atelier arbeite – diese ganze Seite von Mariens Existenz schien ihr etwas zu sein, was ihr unangenehm, bedrückend war, und das, weil sie es nicht verhindern konnte, von ihr mit Schweigen bedeckt wurde.

Aber sehr gern hörte sie zu, wenn Raban und Marie sich mancherlei zu erzählen hatten von den Gängen, welche sie zu armen Leuten gemacht. Da kam des Tragischen freilich genug zu Tage, Raban aber wußte manchen komischen Zug aus dem Volksleben, den er dabei belauscht, mit einem gewissen Humor vorzutragen, an dem die Stiftsdame ihre Freude hatte, der ihr von Zeit zu Zeit ein Lachen entlockte.

„Wie jung Sie noch sind, wie jung!“ sagte die Stiftsdame dann oft lächelnd, wenn er mit einem hübschen Vorstadtabenteuer kam, „wie jung, die Dinge so heiter fassen zu köulleu! Ich glaube, ich bin nie so jung gewesen; ich war immer so ernst, wie heute Marie es ist, die es ja schon zu einer philosophischen Ketzerin gebracht hat. Wenn man Sie beide über solche Dinge reden hört, Ihre weltverbessernden Ideen austauschen, staunt man ja förmlich, womit sich ein junges Mädchen von heute beschäftigen kann! . . .“

„Ich bin doch keine philosophische Ketzerin, liebe Tante,“ fiel Marie ein, „weit entfernt davon! Für Philosophie habe ich nicht das geringste Verständniß – dafür fehlt mir jedes Begriffsvermögen.“

„Und unsere weltverbessernden Ideen sind sehr einfacher Art,“ fiel Raban ein.

„Sie bestehen in einem Cultus der Liebe und des Wohlthuns gegen die Geschöpfe der Gottheit. Dazu gehört doch weiter keine Philosophie,“ meinte Marie.

„Nein,“ erwiderte die Tante, „wenig. Und wenn die neue Religion, welche Ihr stiften wollt, nur diese alten Wahrheiten enthält, so läßt sich nicht viel gegen dieselbe einwenden.“

Wenn Raban nach solchen Marie gegenüber zugebrachten Stunden heimging, fühlte er sich unendlich glücklich. Das leidenschaftliche Gefühl, das ihn mit wachsender Stärke für sie erfaßt und sein ganzes Wesen ihr zu eigen gemacht hatte – es schien ja unmöglich ihr verborgen geblieben zu sein, und dennoch begegnete es nur ihrem immer unbefangener und rückhaltloser sich ergebenden Vertrauen. Er durfte sich sagen, daß er, ohne ein Thor zu sein, den Glauben an eine Begegnung ihrer Gefühle hegen dürfe, welche ihn das schönste Lebensglück hoffen ließ.

Nur wenn er von einem Besuche in Melber’s Atelier zurückkam, lag gewöhnlich eine dunkle Wolke auf seiner Stirn. Er wußte sich in das Verhältniß der jungen Kunstschülerin zu ihrem ebenso jungen Lehrer nicht zu finden. Er beobachtete – so wenig scharf und ungeübt sonst seine Beobachtungsgabe auch noch war – doch ein ihm immer mehr auffallendes Benehmen beider gegen einander. Mariens Auge lag oft wie mit einer zärtlichen Sorge auf Wolfgang Melber. Sie folgte dann seinen Bewegungen, schien auf die Beugungen seiner Stimme zu hören, als ob sie dabei innerlich zu deuten habe, als ob seine Aeußerungen ihr nicht genügten und sie hinter denselben, über sie hinaus etwas suche. Melber’s Benehmen gegen sie dagegen hatte etwas Unbekümmertes, kurz Angebundenes – es schien Rücksichten gegen die Dame nicht zu kennen – es schien wie in einer Art Ablehnung gegen sie zu verharren und manchmal gerade so, als ob etwas von ihm Abzuwehrendes, Belästigendes in ihrem Wesen sei.

Zuweilen, wenn er kam, hörte er im Vorraum schon ihren Stimmenwechsel im Innern durch den leichten Vorhang dringen. Nach dem Ton der Stimmen war es alsdann jedoch, als ob Marie Tholenstein Vorwürfe mache, Mahnungen ausspreche, die nur kurze trockene Erwiderungen von seiner Seite fanden. Sobald Raban eintrat, erstarben diese Gespräche sofort.

Rabatt hatte ein Paar Mal Gelegenheit gehabt, den Auftrag seines Vaters beachtend, Erkundigungen über Wolfgang Melber einzuziehen. Er hatte von seinem bedeutenden Talent reden hören, aber nichts Günstiges über seine Persönlichkeit. Er stieß durch schroffes hochmüthiges Benehmen ab, er war leichtsinnig und hatte einen Hang zu schlechter Gesellschaft – wohl deshalb, weil er darin seiner Ueberhebung als großer Künstler ein Genüge thun konnte und seine Eitelkeit hier Huldigungen genoß, welche er anderswo nicht fand.

Es war nicht anders möglich unter diesen Umständen, als daß Raban sich sagte: es ist offenbar, Marie Tholenstein hat durch ihn das Geheimniß ihrer Herkunft erfahren; sie weiß nicht allein, wie nahe verwandt er ihr ist, sondern glaubt auch, daß er alle Rechte auf den Namen besitzt, den sie trägt, auf Alles was sich daran knüpft, ihr ganzes Erbe. Er wird ihr, von seinem Vater, dem Graveur, unterrichtet, gesagt haben, daß dieser Mann nicht sein Vater, daß er der Sohn des verstorbenen Gatten Melanie Tholenstein’s ist! So muß es ja auch sein – sein Betragen gegen sie beweist es am besten. Sie weiß es, sie haben sich darüber ausgesprochen, sind aber überein gekommen, es der Welt noch verborgen zu lassen; die alten nichtsahnenden Frauen, die Großmutter auf Arholt, die arme leidende Stiftsdame ruhig und ungehärmt ihre Augen schließen zu lassen. Bis dahin aber befindet sich Marie Tholenstein in einer Situation diesem Wolfgang Melber gegenüber, welche er roh genug ist, auszubeuten, und welche sie demüthig erträgt, welche sie als Buße für das Unberechtigte ihrer glänzenderen Existenz auf sich nimmt, welche sie zu seiner Unterworfenen macht!

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 521. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_523.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2022)