Seite:Die Gartenlaube (1884) 524.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Ein chinesischer Schulmeister auf dem Throne.

Von O. Henne am Rhyn.

Daß die wirklichen Ereignisse oft merkwürdiger, überraschender, ja sogar phantastischer sind als die in Romanen geschilderten, ist schon vielfach nachgewiesen worden; aus der neuesten Zeit aber ließe sich kaum ein Beispiel auffinden, das auffallendere und auf weite Kreise wirksamere Schicksalswechsel zur Anschauung brächte, als die erschütternde Tragödie, welche vor nunmehr zwanzig Jahren das „Reich der Mitte“ durchtobte.

Die meisten Reiche uralter Cultur sind vom Erdboden verschwunden. Die Hieroglyphen des Landes am Nil und die Keilschriften desjenigen am Tigris und Euphrat zeugen nur noch von einer längst dahingegangenen Herrlichkeit; lediglich die bizarren einsilbigen Wortzeichen der Gefilde des Hoang-ho und Yangtsekjang werden noch immer von Sterblichen im Verkehr des täglichen Lebens verwendet. Noch steht es da, in ungeschwächter Macht und Ausdehnung, das „Reich der Mitte“ (Tschung-kue) oder „was unter dem Himmel liegst“ (Thjang-hja), wie es seine Angehörigen abwechselnd nennen (nicht aber: das „himmlische Reich“, was ein bloßes Mißverständniß für den zweiten jener Namen ist). Freilich, nicht Alles ist mehr, wie es ehedem war, selbst dort, in dem conservativsten aller Reiche, das in so vielem das Gegentheil von dem thut, was wir thun. Bei uns ist der Ehrenplatz rechts, dort links, bei uns trauert man in schwarz, dort in weiß, bei uns ist der Zopf ein überwundener Standpunkt, dort ist er – eine Neuerung! Und gerade diese erinnert uns an die großen Veränderungen, die mit dem „Reiche der Mitte“ vor sich gegangen sind. Es sind nicht mehr die echten Angehörigen des Landes China (wie wir es mit unserer Aussprache der englischen Schreibart seines indischen Namens Tschina nennen, der wieder von der Dynastie Tschin herkommt, unter welcher das Land in Indien näher bekannt wurde), es sind nicht mehr die „schwarzhaarigen Leute“, wie sie sich ehedem mit Stolz nannten, die sich selbst regieren oder von einem geborenen Landsmann regiert werden. Die weltberühmte chinesische Mauer, welche der blutige Eroberer, der vandalische Zerstörer der alten Literatur Chinas, Schi-hoang-ti (d. h. erhabener Kaiser), ein Zeitgenosse Hannibal’s und Scipio’s, zum Schutze des Landes gegen die Einbrüche der Mongolen errichtet hatte, – die kolossale Landesfeste erfüllte ihren Zweck nicht auf die Dauer. Zweimal wurde China von Hochasien her erobert, einmal unter einem Enkel des wilden Dschingischan, Kubilai, dem Gönner des kühnen venetianischen Reisenden Marco Polo, und das zweite Mal von den Mandschus zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, welchem damals im fernen Osten ein beinahe ebenso langer hartnäckiger Widerstand der echten Chinesen gegen die Fremdherrschaft zur Seite ging, der sie aber endlich erlagen. Seitdem ist ihnen von den Siegern der Zopf aufgezwungen, der zur Nationaltracht der Letzteren gehörte.

Gegen diese Fremdherrschaft bestand schon längst Mißstimmung unter gewissen Theilen des chinesischen Volkes. Geheime Gesellschaften, wie sie in China seit sehr langer Zeit üblich sind, agitirten gegen dieselbe. Einem ernsten Conflicte trieben jedoch die Verhältnisse erst nach dem Frieden von Nanking zu, welcher 1842 dem verhängnißvollen Opiumkriege mit England ein Ende gemacht hatte. Zum ersten Male in Chinas mehrtausendjähriger Geschichte war der „Sohn des Himmels“, der Kaiser, genöthigt gewesen, eine feindliche Macht als gleichberechtigt anzuerkennen und mit ihr Verträge abzuschließen, statt ihre Huldigungen zu empfangen, was man in China als die Pflicht aller Staaten der Welt betrachtete. Die damit an den Tag gelegte Schwäche der Mandschu-Dynastie gegenüber den Europäern machte unter den Chinesen sehr böses Blut. Zuerst wandte sich die Erbitterung derselben gegen die Europäer, namentlich in Kuangtong (Kanton), wo blutige Excesse vorfielen und wiederholt Engländer ermordet wurden. Aber die verderblichen Folgen des Krieges, die durch diesen und die an England zu zahlende Entschädigung herbeigeführte Finanznoth, das verzweifelte Mittel des Stellenverkaufes, zu dem der Kaiser Taokuang griff, ebenso aus Verzweiflung eingeführte Geldstrafen, die Einstellung der früher an Nothleidende verabreichten Unterstützungen, die Entlassung eines Theils der Truppen, die dann sengend und mordend das Land durchschweiften, das Ueberhandnehmen von Land- und Seeräuberbanden, – alles das trug dazu bei, das Ansehen der Mandschu-Regierung völlig zu untergraben und die Macht der geheimen Gesellschaften zu stärken. Es blitzten überall Empörungen auf, und als der Kaiser 1850 gestorben war und sein Sohn Hien-fung sich der immer drohender emporsteigenden Gefahr nicht gewachsen zeigte, erhob sich, von zahlreichen Rebellenhaufen unterstützt, bereits ein Prätendent, der von der letzten rein chinesischen Dynastie Ming abzustammen behauptete.

Die Organisation und Leitung des Aufstandes fielen jedoch in andere Hände. In einem Dorfe der Umgebung von Kanton lebte ein Schulmeister, Namens Hung-siu-tsuen, welcher in seiner Jugend (er war 1813 geboren) das Vieh gehütet hatte und später sich lange ohne Erfolg bemühte, bei den Staatsprüfungen den ersten Grad der Gelehrsamkeit zu erlangen. Während er sich 1837 zu diesem Zwecke wieder einmal in Kanton aufhielt, theilte ihm ein zum protestantischen Missionär gewordener Landsmann Auszüge aus dem Alten und Neuen Testament mit. In einer Krankheit, die seine verfehlten Hoffnungen ihm zugezogen, hatte er Visionen und wollte dieselben nach seiner Genesung durch die Bibel bestätigt finden. Er beschloß, sein Vaterland zu dem wahren Gotte zurückzuführen, den es in alter Zeit unter dem Bilde des Himmels (Thjan) verehrt hatte. Er taufte sich selbst und zog predigend umher, mit ihm ein College ähnlichen Schicksals, Fung-yung-san. Sie lasen den Leuten auf dem Felde beim Viehhüten aus der Bibel vor, und es sammelten sich Gemeinden um sie, welche sich rasch verbreiteten. Die Gläubigen zerstörten die Götzenbilder und hatten in ihren Versammlungen Verzückungen. Hung faßte sofort nach dem Tode des Kaisers Tao-kuang den Plan, die Mandschus zu stürzen. Er verband sich mit einem gewissen Yang-sin-tsing, der die politische und militärische Leitung der Rebellen übernahm, während er selbst die höchste geistliche Würde bekleidete.

Die Organisation der Insurgenten war rein communistisch; alle lieferten ihr Vermögen in die gemeinsame Kriegscasse ab. Die Tai-ping, wie sie sich nach ihrem ersten Hauptsitze, einem Kreise der Provinz Kuang-si nannten, standen bald gerüstet den kaiserlichen Truppen gegenüber und zeigten sich ihnen gewachsen. Hung, der sich „himmlischer Fürst“ und „jüngerer Bruder Christi“ betitelte, erließ Manifeste, in denen er sich (1851) zum Herrn des Reichs erklärte und die Mandschus und Götzendiener auszurotten befahl.

In einer solchen Kundgebung proclamirte er sich endlich auch als Kaiser und ernannte seinen Bruder zum Hülfskönig und seine fünf hervorragendsten Anhänger zu „Königen des Nordens, Ostens, Westens und Südens“ (Yang und Fung befanden sich natürlich unter ihnen). Das Heer des Rebellenkaisers zählte etwa 16,000 Mann; in seinen Proclamationen aber prahlte er mit „neun Armeen“! Alle Tai-ping schnitten sich die Zöpfe ab als Zeichen des Aufstandes gegen die Mandschus und ließen das Haar wachsen. In merkwürdigem, unaufhaltsamem Siegeszuge drangen sie nordwärts, und am 19. März 1853 eroberten sie Nanking, die „südliche Residenz“ des Reichs der Mitte, welches elf Jahre lang ihre Hauptstadt sein sollte. Daß sie aber diesen Erfolg überschätzten und es untertießen, sich sofort nach Peking, der „nördlichen Residenz“ zu wenden, was ihnen im damaligen Siegesrausche, bei einer inzwischen erlangten Stärke von wenigstens 160,000 Mann und bei der vollständigen Demoralisation der Kaiserlichen leicht gewesen wäre, – das war ihr Unglück.

Hung umgab sich in seiner neuen Residenz mit einem glänzenden Hofe und einer Menge Frauen, beschäftigte sich daneben eifrig mit theologischen Fragen, schloß sich vom Volke ab und überließ die Regierung ganz seinen fünf „Königen“. Diesen fehlte es aber an Bildung und Erfahrung und sogar an Energie. Die Tai-ping machten nicht nur keine Furtschritte mehr, sondern ein Heer, das sie nach dem Norden sandten und vor welchem der Kaiser und Hof in Peking erzitterte, ließ sich von den Kaiserlichen, denen mongolische Nomaden, angebliche Nachkommen Dschingischan’s, zu Hülfe kamen, einschließen und mußte froh sein, sich zurückschlagen zu können. So verloren die Tai-ping nach und nach auch ihre bisherigen Eroberungen, da sie dieselben nicht besetzt hielten, und behaupteten nur Nanking und dessen nächste Umgebung auf die Dauer. Hung

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_524.jpg&oldid=- (Version vom 12.3.2024)