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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

aber, der sich als „Kaiser“ Tien-wang (himmlischer Fürst) nannte, bewies nicht nur seine völlige Unfähigkeit, sondern verfiel geradezu in Wahnsinn, nahm für seine Person eine eigentliche Vergötterung in Anspruch und ließ sich den „zweiten Sohn Gottes“ und den „Herrn der ganzen Welt“ nennen.

Während so die Tai-ping in Unthätigkeit versanken, erhielten sie eine Concurrenz in den bereits genannten Anhängern der Dynastie Ming, die der alten geheimen Gesellschaft des „Dreifaltigkeitsbundes“ angehörten, sich im Herbst 1853 der Stadt Schanghai bemächtigten und sie anderthalb Jahre lang behaupteten, aber dann den Kaiserlichen weichen mußten, welche die Stadt für ihren Abfall in grausamster und blutigster Weise bestraften.

Gleiches geschah in Amoi, welches die Dreifaltigkeitsbündler sechs Monate lang besetzt hatten. Diese Leute theilten die christlichen Anläufe der Tai-ping nicht und wurden daher von ihnen ebenso angefeindet wie die Kaiserlichen, was alles die Zustände in dem zerrütteten Reiche in noch höherem Grade verschlimmerte. Die Heere aller drei Parteien bestanden beinahe durchweg aus dem niedrigsten Gesindel, und es läßt sich demzufolge denken, was das Land unter ihren „Operationen“, die nicht mehr Kriegs-, sondern blos noch Raubzüge waren und nur Verwüstung und alle möglichen Gräuel im Gefolge hatten, leiden mußte. Das chinesische Volk hatte früher nur den Mandschus geflucht, jetzt fluchte es auch den Tai-ping und den Dreifaltigkeitlern.

Das nunmehrige Treiben der Tai-ping stand im schreiendsten Widerspruche zu ihrer Lehre, welche Hung in einem selbstverfaßten Buche dargelegt hatte und welche von trefflichen moralischen Grundsätzen überfloß. Sie war ein Gemisch aus der auf der reinsten Sittenlehre beruhenden altchinesischen Religion vor ihrer Entartung zum Götzendienst und einem großentheils mißverstandenen Christenthum. Die mosaischen „zehn Gebote“ wurden als Grundlage dieser Lehre anerkannt; aber Christus wurde nicht als Gott, sondern, wenn auch Gottes Sohn genannt, nur als der erhabenste Mensch betrachtet; nach ihm kam indessen gleich der neue Kaiser der Tai-ping. Nach der altchinesischen Lehre konnte nur der Kaiser, der „Sohn des Himmels“, den höchsten Gott, dessen Hülle der Himmel war, anbeten; die Tai-ping erlaubten dieses jedem Menschen und verbannten die Verehrung der unzähligen Geister, welche im alten China die Vermittler zwischen Gott und Menschen waren. Gleich den alten Chinesen bedurften sie keiner Priester und hatten auch keine Tempel, sondern versammelten sich, wo es war, zu Gebet und Andacht, wobei die Schrift ausgelegt wurde; am Hofe that Tien-wang das letztere selbst.

Den Gläubigen war das Rauchen sowohl des Tabaks als des Opiums verboten; ersteres wurde mit Bambushieben, letzteres sogar mit dem Tode bestraft. Die Gütergemeinschaft wurde beibehalten, und in Nanking selbst herrschte die größte Ordnung und strengste Mannszucht und dabei Frohsinn und Heiterkeit. Da aber Alle Soldaten waren, hörten Handel und Gewerbe auf und man bezog die Bedürfnisse von den in die Stadt kommenden Landleuten; das Geld dazu war natürlich geraubt. So hatten die Tai-ping als große Räuberbande viele Aehnlichkeit mit den Arabern unter Mohammed und den ersten Chalifen, während ihr religiös gefärbter Militarismus an die Puritaner unter Cromwell und ihre Religionsmengerei, verbunden mit bürgerlicher Ordnung, an die Mormonen erinnerte.

Nachdem jedoch Tien-wang durch seinen Selbstvergötterungswahn den Verstand verloren, entartete die ganze Bewegung. Es griffen confuse und mystische, ja geradezu verrückte Ideen über die Dreieinigkeit, über die Maria, über die Erbsünde und Erlösung Platz, und der Rebellenkaiser behauptete sogar, den Himmel besucht zu haben! Dabei aber versank er in Ueppigkeit und Schwelgerei und wurde immer mehr zum blutdürstigen Despoten; die geringsten Fehler seiner Untergebenen ahndete er mit dem Tode, die größeren mit grausamen Qualen. Merkwürdiger Weise aber empörten sich die Bedrückten nicht gegen ihn, sondern blieben ihm bis zum Untergange ihrer Sache mit Gut und Blut ergeben. Nur sein Freund Yang, der „Ostkönig“, Obergeneral und eigentlicher Regent, arbeitete im Geheimen an seinem Sturze und suchte ihn in Verzückungen zu überbieten, worin er soweit ging, sich für ein Organ des „himmlischen Vaters“ auszugeben, was der Rebellenkaiser in seinem Wahnsinn soweit anerkannte, daß er von ihm Verweise über sein Verhalten hinnahm und Besserung versprach! Ja, Yang erhielt für seine Zusprüche den Titel des „Trösters“ und „heiligen Geistes“, sein Name wurde in den Litaneien an die Stelle des letzteren gesetzt und seiner Lobpreisung gleich auch diejenige der vier übrigen „Könige“ beigefügt, welche als „Regenmacher, Wolkensammler, Donnerer und Blitzschleuderer“ betitelt wurden, womit also die angeblichen Neu-Christen glücklich wieder bei dem rohen Schamanismus der Vorfahren ihres Volkes angekommen waren. Daß Tien-wang selbst nicht in die Litanei kam, ist offenbar nur den Ränken Yang´s zuzuschreiben, welcher sich nach und nach der Regierung so vollständig bemächtigte, daß der Glaube um sich griff, der Kaiser wäre gestorben.

Endlich aber ermannte sich der Letztere und ließ 1856 den Yang und alle seine Anhänger ermorden. Damit hatten jedoch die Tai-ping ihren einzigen fähigen Feldherrn verloren, und die Folge war, daß die Kaiserlichen wieder Erfolge gewannen und wiederholt Nanking belagern konnten. Daß sie nicht mehr erreichten, hatte seinen Grund in dem unaufhörlichen Auftauchen der Rebellenschaaren, welche mit den Tai-ping mehr oder weniger in Verbindung standen und die Mandschus nicht zur Erholung kommen ließen. Das ganze Reich war zerrüttet, und so oft eine Partei siegte, verhängte sie furchtbare Blutgerichte über die Gegner. In Kanton wurden angeblich 70,000 Rebellen hingerichtet! Das Land war, soweit der Krieg raste, das heißt in elf von den achtzehn Provinzen des eigentlichen China, eine Wüste, Millionenstädte, die sonst in höchster Blüthe standen, lagen in Trümmern und boten wilden Thieren Zuflucht dar. Das Volk hungerte und verzweifelte; denn wo die Tai-ping hinkamen, preßten sie alle waffenfähigen Männer zum Kriegsdienste und jagten alle anderen Personen in’s Elend. Gefangene köpften sie, Spione marterten sie zu Tode; Gnade gab es keine. Grundsätze aber beherrschten die Soldaten der Rebellen so wenig mehr, daß sie die Zöpfe nicht mehr abschnitten, sondern nur aufbanden, um je nach Bedürfniß zu den Kaiserlichen überlaufen zu können.

Dies Alles aber störte den Tien-wang in seinem Irrsinne nicht; er erließ wahnwitzige Proclamationen, nicht um die Noth des Landes zu heilen, sondern um seine Göttlichkeit zu betonen (er selbst war jetzt „heiliger Geist“) und den Mord Yang’s zu beschönigen, als wäre derselbe, „vom Unglück ereilt, zum himmlischen Vater zurückgekehrt“. Selbst für seinen zehnjährigen Sohn setzte er göttliche Verehrung durch; ja derselbe erließ besondere Edicte und beteiligte sich an den Staatsgeschäften.

Den größten Einfluß am Hofe der Rebellen übte seit 1858 Hung-Dschin, ein Verwandter des „Kaisers“, als erster Minister mit dem Titel „Schildkönig“ aus. Obschon von Missionären besser als sein Vetter im Christentume unterrichtet, ließ er sich bald von dessen Blutdurst anstecken und mordete unbedenklich. Tien-wang selbst kümmerte sich in seinem Stumpfsinne weder um die Siege noch um die Niederlagen seiner Partei. Für ihn handelten, statt der nun todten Könige der vier Weltgegenden, neue fähigere Generale, welche als „Heldenkönig“, „treuer König“ etc. betitelt waren und manche Erfolge errangen, sodaß es zeitweise, namentlich 1859 und noch mehr 1860, als zugleich die Engländer und Franzosen Peking demüthigten, mit den Mandschus herzlich schlecht stand. Schanghai widerstand den Rebellen 1860 nur, weil es von Engländern und Franzosen besetzt war, welche nun auch die Rebellen ebenso jämmerlich zusammenschossen, wie die Mandschus. Dennoch führten die Tai-ping eine hochfahrende Sprache gegen die Europäer und betrachteten sie fortwährend als „Barbaren“, die ihrem „Kaiser“ Gehorsam schuldeten!

Längst war es den Europäern in China klar, welch Geistes Kinder diese Leute waren. Nur einige Missionäre glaubten noch im Ernste an ein aufrichtiges Christenthum der Rebellen. Ein solcher war der Engländer Roberts, welcher dem Tien-wang, als dieser noch ein obscurer Mensch und noch kein Gott war, Unterricht ertheilt hatte. Von ihm eingeladen, begab er sich 1860 nach Nanking, erhielt eine hohe Stelle am Hofe und trug das gelbe Kleid der Tai-ping und eine goldgestickte Krone; da er aber als Christ die Göttlichkeit des Usurpators nicht anerkennen konnte, fiel er in Ungnade. Er wurde gründlich enttäuscht und lieferte seinen Landsleuten ein nichts weniger als schmeichelhaftes Bild von den traurigen Zuständen an dem possenhaften Hofe des Gottkaisers. Er wurde dafür 1862 von Hung-Dschin mit dem Tode bedroht und mißhandelt und sein Diener vor seinen Augen erschlagen,

dessen Kopf der „König“ und „Minister“ mit Füßen trat! Erst nachdem er bei dem irrsinnigen und verschlossenen ehemaligen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_526.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)