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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Alfred Meißner’s Lebenswerk.

Von Hans Blum.


In der alten Brigantia der Römer, heute Bregenz geheißen, in dem Hauptort des Vorarlbergs hat sich seit fünfzehn Jahren einer der besten und treuesten Vorkämpfer des Deutschthums in Oesterreich, Alfred Meißner, seßhaft gemacht. Hier umspannt sein Blick von der eigenen Heimstätte aus das weite schwäbische Meer von der Einmündung des Rheines bis nach Constanz, das Thal der Bregenzer Ach und des Rheins, die Appenzeller und Glarner Alpen, während Gebhardsberg und Pfänder zu noch weiterer Rundsicht locken. Wahrlich, kein Dichter kann sich einen lieblicheren Erdenwinkel erträumen, als Alfred Meißner ihn sein eigen nennt. Auf einer entzückenden Landschaft haftet täglich der Blick des Dichters. Noch fesselnder aber, als Strom, Gebirg und See, mit ihrem stets wechselnden Farbenspiel, ist für den Sinnenden das gewaltige Stück Welt- und Culturgeschichte, welches dieses weite reiche Land seit Jahrtausenden erzählt. Von den Anfängen menschlichen Daseins geben die zahlreichen Pfahlbauten Kenntniß, die aus dem festgewordenen Boden des einstigen Seebettes zu Tage gefördert wurden. Von den Anfängen deutscher Geschichte reden diese Ufer. Von hier aus brachen die unübertroffenen Meister des Straßenbaus, die Römer, ihre Alpenstraßen über die Joche Graubündens, die Thalstraßen in das innere Helvetien und an den Oberrhein über Vindonissa und Augusta Rauracorum gegen Basel; die Straßen, auf denen später die germanische und hunnische Völkerwanderung zur Bewältigung des römischen Weltreiches vordrang. Auf diesem See lieferte eine römische Kriegsflotte unter Tiberius in der Nähe von Bregenz, beim heutigen Lindau, im Jahre 9 vor Christus den Vindelikern und Bojern eine Seeschlacht. In diesem See spiegelte sich die uralte deutsche Kaiserpfalz Bodmann und gab ihm seinen heutigen Namen. Auf den felsigen Höhen des Hegau erwachsen die Burgen deutscher Herren als Schirm des Landes, der reichen Klöster und Ansiedelungen der Niederung. Von diesen alten Tagen erzählt uns Scheffel’s Ekkehard. Aber immer noch liegt ein Jahrtausend fast zwischen den Zeiten Ekkehard’s und den unsern. Ein Jahrtausend, das dem starken Volk des Bodensees viel Kampf und Blutvergießen brachte, viel Noth und Drangsal aller Art, aber doch stetig wachsende Cultur und Gesittung bis zum heutigen Tage, wo an diesem See die Schweiz, Oesterreich und drei deutsche Bundesstaaten die Hand sich reichen in friedlichem Wettbewerb um die Güter und Segnungen des Friedens, in guter Völkernachbarschaft.

Was ist ein einzelnes Menschenleben, selbst das größte, im Vergleich zu diesen Sagen und Erinnerungen von Jahrtausenden, die vor Alfred Meißner lebendig werden, wenn sein Blick vom Söller seines Hauses die weite Landschaft umfaßt? Und dennoch, wie dankbar sind wir für jede Aufzeichnung, die uns Selbsterlebtes aus diesen dahingerauschten Jahrhunderten treu vermittelt. Die Erdensorgen und Mühen, die Hoffnungen und Täuschungen, die einst die Männer bewegten, welche im Schatten des Klosters oder in der Actenstube des hochgiebligen Rathhauses oder in der schwarzbraunen Bücherei des alten Rittersitzes ehrwürdige Pergamente mit der Geschichte ihres Lebens füllten, mögen längst für das heutige Geschlecht alles Interesse verloren haben. Unverloren aber und unvergessen, zu neuem Leben erweckt, sind durch diese Aufzeichnungen die großen Ideen, welche in den Tagen der Verfasser um Geltung rangen in der Geschichte der Völker, und mit ihnen treten die Gestalten der vornehmsten Kämpfer im Streite der Geister vor unser Auge, als lebten sie heute.

Mit warmer Dankbarkeit für die Treue und Wahrhaftigkeit des Verfassers wird die Nachwelt einst auch nach dem Memoirenwerk greifen, das Alfred Meißner unter dem bescheidenen Titel „Geschichte meines Lebens“[1] soeben veröffentlicht hat, und das, kaum erschienen, drei Auflagen erlebte. Wir Mitlebenden aber sollten uns die Freude gönnen, es unserm eigenen Bücherschatz einzuverleiben und unsern Kindern zu vererben mit der Bedeutung, daß in diesem schlichten Buch ein guter Theil der edelsten Gedanken und Bestrebungen niedergelegt sei, die unser Jahrhundert groß machten. Unmöglich ist es, dem Leser in dem knappen Raum, der uns zugemessen ist, den reichen Inhalt des Meißner’schen Werkes, seine glänzende Schilderung der geschichtlichen Ereignisse und der hochberühmten Zeitgenossen, mit welchen ihn seine Lebensbahn zusammenführte, auch nur im Auszug zu bieten. So muß denn versucht werden, den Lebensgang des Dichters nach diesen Blättern in Kürze zu erzählen. Jeder unserer Leser wird dann gewiß das Bedürfniß fühlen, aus der klaren köstlichen Quelle selbst zu schöpfen.

Alfred Meißner ist geboren in Teplitz am 15. October 1822. Sein Vater war ein Arzt aus Dresden, der sich in Teplitz Grundbesitz und Vermögen erworben hatte, seine Mutter eine Schottin. Englisch waren die ersten Sprachlaute und Liedertexte, die an sein Ohr drangen. Seine Kinderjahre verlebte er einsam im Elternhaus, ohne Gespielen, ohne Geschwister. Teplitz war damals noch ein kleines stilles Landstädtchen, in das nur im Sommer Badeleben kam, nicht entfernt in dem Umfang wie heute. Da sah der kleine Alfred zur Sommerszeit in dem elterlichen Hause wunderliche Leute, einen uralten polnischen General Klicki, der unter Napoleon gefochten, eine greise gelähmte Gräfin Stolberg und das siebenzigjährige Liebespaar Tiedge und Elise von der Recke. Sie zeigen dem Knaben das Grab eines Dichters, das sie bei Teplitz pflegen, das Grab Seume’s. Vor den Augen des Neunjährigen ziehen dann die gesprengten Schaaren von Polen vorüber, welche im letzten Verzweiflungskampf gegen Rußland gerungen hatten, von den Bewohnern des Teplitzer Thals, wie überall in Oesterreich und Deutschland, in einer Zeit furchtbaren Drucks und gewaltthätiger Reaction, als die Kämpfer der Freiheit gefeiert.

Durch Censur, Bücher- und Zeitungsverbote suchte das damalige Metternich’sche Oesterreich sich und seine Unterthanen vor dem geistigen Ansteckungsstoff der von der „Freiheitsseuche^ ergriffenen Länder zu schützen. Harte Strafe stand auf dem Halten verbotener „ausländischer“, d. h. deutscher Zeitungen; verboten war aber Alles, sogar der harmlose „Nürnberger Correspondent“, den Meißner’s Vater heimlich hielt. Eines Tages sieht Alfred den Vater, von einem „Grenzjäger“ verfolgt, in das Haus fliehen. Einen Haufen Papierblätter wirft der Arm des Vaters in fliegender Eile in den Ofen. Die Flamme prasselt hoch auf. Der Beamte ringt mit dem Vater um die brennenden Blätter; er versucht sie dem Feuer zu entreißen, um Ueberführungsstücke zu gewinnen. Er zieht die Hand, den Arm, übel verbrannt, zurück. Der Mann, den er verfolgt, legt ihm Oel und Verband auf. Aber mit harter Strafe ahndete der Staat Oesterreich das Verbrechen des Dresdener Arztes, eine deutsche Zeitung zu lesen.

Sonderbare Gedanken erweckte dieser Vorgang in dem Haupte des sinnenden Knaben, und noch sonderbarere und traurigere ein anderer Vorfall, der bald folgte und auch dem kindlichen Gemüth offenbarte, daß der Staat, der so drakonisch drohte und strafte, zu anderen Zeiten nicht einmal den Willen oder die Kraft besaß, seiner Bewohner Landfrieden, Leben und Eigenthum zu schützen. Da dieser Vorgang von entscheidender Bedeutung für Meißner’s fernere Erziehung und Verhältnisse, ja seinen ganzen Lebensgang wurde, so muß desselben hier eingehender gedacht werden.

Meißner’s Vater erkannte im Sommer 1831 bei einigen seiner Patienten die asiatische Cholera. Er machte kein Hehl daraus, verlangte Veröffentlichung aller Cholerafälle und die Absperrung der Häuser, in denen solche Fälle sich ereigneten. Er sagte einem fürstlichen Badegaste, den er behandelte, mit aller Offenheit, daß die Cholera im Orte sei. Dessen Abreise, die Abreise sehr vieler Curgäste war die Folge. Gegen den Arzt, der seine klare Pflicht geübt, während Behörden und Bevölkerung die Krankheit verheimlichen wollten, wandte sich die ganze Wuth der in ihrem Gelderwerb Geschädigten. Mehrere Nächte hindurch wurde das Haus der Eltern Meißner’s belagert, zu stürmen versucht, wurden alle Fenster, alles Glas und Geräth durch Steinwürfe zertrümmert. Die Regierungsbeamten rührten keine Hand gegen den schweren Landfriedensbruch. Nur wenn der Arzt die Stadt

  1. Wien und Teschen. Karl Prochaska. 2 Bände, 1884.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_550.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)