Seite:Die Gartenlaube (1884) 555.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


er der Sohn dessen sei, den er Vater nannte – was war auf die Antwort zu geben? Es blieb immer aufs Aeußerste ungewiß, ob die Antwort von der Wahrheit eingegeben war oder von der Furcht vor drohenden Folgen; von der Wahrheit oder von dem Verlangen, die Umstände zu benutzen und seinem Sohne Wolfgang die glänzende Lebensstellung zugewendet zu sehen, welche bisher das Erbtheil Mariens war. Von der Wahrheit oder dem Wunsche, Marien, seinem eigenen Kinde, seinem Fleisch und Blut, dies Erbtheil zu bewahren, auch wenn es Wolfgang zugekommen wäre.

Es litt Raban nicht daheim. Er verließ die Stadt, er wanderte über die Linien hinaus; er streifte stundenweit umher, und als er heimkehrte, hätte er schwer angeben können, wo er gewesen. Von allen den Bildern, welche die durchirrte Landschaft wechselnd und vorüberziehend ihm vorgehalten hatte, stand, als er wieder daheim war, nur ein einziges noch wie tiefer eingegraben in seiner Seele. Es war das Bild eines breiten, in raschem Gange majestätisch dahinziehenden Stromes, eines mächtigen Gewässers, das durch die Auen der schweigend ruhenden Flur, an dem Fuße der unbewegten Hügel entlang dahinfluthete, wie das einzig Lebendige, einzig Mächtige, wie der bewegte Herrscher in dieser todten Welt. Und sich selber sah er am Ufer dieses Stromes stehen, auf denselben hinunterblickend, mit den Augen seine Tiefe zu ermessen suchend – und im Herzen das Gefühl, daß auch er zu der todten Welt, durch welche der Strom als lebendiger Herrscher dahinzog, gehöre. Ein innerlich todter Mensch, auf dessen Lebensflamme erstickend sich die Asche verglühter Hoffnungen, hoher Entwürfe und idealer Zukunftsbilder gelegt hatte. Ein todter Mensch, nun für alle Zeit verurtheilt, so am Ufer des Zeitenstroms, der dahinziehenden Wellen der Weltgeschehnisse zu stehen, sie an sich vorübergleiten zu lassen, eine nach der andern, und ihnen mit den Augen zu folgen, ohne zu wissen, wozu und warum! – –

Am folgenden Vormittage schritt Raban abermals zu der Wohnung Mariens. Als ihm hier von dem Diener wie gestern die Nachricht geworden, daß das Fräulein zu krank sei, um irgend Jemand zu empfangen, ließ er ihre Zofe Anna bitten, zu ihm herauszukommen. Anna erschien und gab Bericht über Mariens Befinden; das Fräulein sei ganz bedenklich angegriffen, von Herzklopfen gepeinigt, von Schlaflosigkeit – aber der Arzt hoffe, daß der Zustand in einigen Tagen gehoben sei, ohne daß sich, wie er anfangs gefürchtet, eine ernstere Krankheit daraus entwickele.

Raban konnte, beruhigter über diesen Punkt, sich entfernen; er konnte wieder einen seiner weiten Spaziergänge antreten, wobei er sich die Frage vorlegte, ob er nicht besser thue, wenn er Wien, das für ihn kein glücklicher Boden mehr war, verlasse und in seine Heimath zurückkehre, die vielleicht mit mildernden, tröstend zerstreuenden Einflüssen ihm über die kommenden Tage hinweghelfen würde.

Als er dann am Abende ziemlich spät seine Wohnung im Hotel wieder betrat, wurde ihm mitgetheilt, daß ein ältlicher Herr dagewesen sei, um ihn zu sprechen. Er sei zweimal gekommen, in den Abendstunden noch, und habe großes Bedauern geäußert, Herrn von Mureck nicht treffen zu können. Als er das zweite Mal fortgegangen, habe er hinterlassen, daß er am andern Morgen in der Frühe wiederkommen werde.

„Und hat er keine Karte zurückgelassen?“ fragte Raban.

„Eine Karte schon!“ sagte der Portier, indem er eine solche hervorholte; „diese hier.“

Raban erstaunte nicht wenig, als er den Namen las, den die Karte zeigte. Der Name lautete nicht anders, als:

„Heinrich Melber, Graveur.“ .

Es stand wirklich so da: Heinrich Melber! Also dieser Mann war es, der nun aus eigenem Antriebe zu ihm kam! Wozu, weshalb kam er?

Raban fragte es sich und wiederholte es sich, während er, oben in seinem Zimmer angekommen, beunruhigt auf- und abschritt. Und doch war die Frage nicht schwer zu beantworten. Wenn Heinrich Melber das Bedürfniß fühlte, sich ihm zu nähern, so konnte es nur sein, weil „das Eis gebrochen“, der entscheidende Schritt geschehen war; weil Marie Tholenstein Wolfgang Melber hatte zu sich berufen lassen, weil sie ihm Alles gesagt, ihm alle ihre Rechte übertragen zu wollen erklärt hatte, und weil nun Heinrich Melber, von Wolfgang unterrichtet, das Bedürfniß empfand, mit Raban zu sprechen, von ihm zu vernehmen, was eigentlich sein Vater ihm geschrieben, von ihm den Brief seines Vaters selbst übergeben zu erhalten.

Nichts Anderes konnte des Mannes eifriges Verlangen, Raban zu sprechen, bedeuten, und nichts Anderes war für Raban zu thun, als sich entsagungsvoll in die Lage der Dinge, in die weitere Entwickelung dessen, was nun kommen würde, zu ergeben. Wenn Mariens Herz an Wolfgang hing, so unwürdig dieser ihrer sein mochte, so war sie für ihn auf ewig verloren, mochte nun ihr edelmüthiges Verzichten ihr das Herz Wolfgang’s gewinnen, oder mochte dieser bei dem Widerstreben gegen solch eine still und sanft mahnende Lebensgefährtin, gegen solch eine Trauerweide, wie er sich ausdrückte, beharren. Es gab nichts, was einen Lichtschimmer, eine tröstende Helle in Raban’s Zukunft warf, als der Gedanke, daß er durch diese Zukunft doch wandern könne auf Wegen, die neben denen einherliefen, welche sie wandelte. Er konnte mit ihr dieselben Pfade schreiten, zu den Hütten der Armen und zu den Leidenden, den Hülflosen. Er konnte sich in eine ihn glücklich machende Gemeinsamkeit des Herzenslebens mit ihr hinein fühlen, wenn er wie sie seine suchenden Gedanken auf die Umgestaltungen unserer gesellschaftllchen Einrichtungen wandte, die zur Abwehr der Noth der Enterbten führten; zur Umgestaltung vor Allem der Anschauungen der Menschen und ihrer Art zu fühlen bei fremdem Leide, und zur Christianisirung eines noch ganz heidnischen Verhaltens der Menschen zu den schwerwiegenden Fragen der Humanität.

Er konnte ihr verwandt, er konnte Marien ein geistiger Bruder bleiben. Er konnte streben, gut zu werden wie sie. Er konnte sich sogar sagen, daß so vielleicht eine Stunde kommen werde, wo sie selbst fühlen und sich gestehen würde, sie hätte besser daran gethan, wenn sie ihr Herz statt Wolfgang einem andern Manne zugewandt . . . Doch nein, nein, vielleicht war sie dann die Gattin Wolfgang’s, und dann wäre es ein Frevel gewesen, so etwas zu wünschen und darin eine Genugthuung zu empfinden!

Es war am andern Morgen noch ziemlich früh – Raban hatte sich eben erst erhoben, nachdem ihm spät erst der Schlaf gekommen – als der Kellner Herrn Melber meldete und dieser zugleich eilig eintrat. Es war ein kleiner ältlicher Mann, vorgebeugt gehend, mit hoher gewölbter Stirn und einem leidenden Ausdrucke in seinem anziehenden Gesicht, das von langem ergrauenden dünnen Haare umrahmt war – er trug es hinter die Ohren gestrichen und von einer Brille dort festgehalten. Wie vom raschen Treppensteigen außer Athem, schien er nicht gleich die Worte zur Anrede finden zu können. Raban sagte, ihm entgegengehend:

„Herr Melber – ich kann mir denken, weshalb Sie zu mir kommen – um eines Briefes willen, den mein Vater . . .“

„Um eines Briefes willen?“ fiel ihm der Graveur in’s Wort „o mein Gott, nein, leider handelt es sich wenig um Briefe, sondern –“

„Nicht? Aber um was denn? Bitte, nehmen Sie Platz. Um was denn handelt es sich?“

Heinrich Melber ließ sich wie erschöpft in einen Sessel fallen.

„Um etwas sehr Fatales, um etwas ganz Schreckliches . . . man hat meinen Sohn, meinen Sohn Wolfgang, den Bildhauer Wolfgang Melber am gestrigen Mittage verhaftet –“

„Verhaftet? Ihren Sohn?“

„Verhaftet, zum Landgericht eingeliefert . . .“

„Aber ich bitte Sie, weshalb?“ rief jetzt ebenfalls erschrocken Raban aus.

„Ja – weshalb! Das ist’s eben, was mich zu Ihnen treibt! Wegen eines Mißverständnisses, eines ganz falschen Verdachts, einer Dummheit . . .“

„Ist das möglich! Aber weshalb denn, wegen welches Verdachts?“

„Er soll gestohlen haben – Münzen gestohlen – Goldmünzen – aus dem kaiserlichen Cabinet . . .“

(Fortsetzung folgt.)


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_555.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)