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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

junger Pianisten und Pianistinnen mit guten Zeugnissen das Conservatorium verlassen; er überschwemmt zuerst erfolglos concertirend die kleinen Städte und Bade-Orte, um sich dann kümmerlich mit Lectionen fortzufristen.

Dem Leser wird bei obigen Zahlengruppen das unverhältnißmäßige Uebergewicht der weiblichen Pianisten aufgefallen sein. Ein schlimmes gesellschaftliches Symptom! In der That gebührt den Clavierspielerinnen eine eigene Strophe, und nicht die heiterste, in unserem heutigen Klageliede. Seit Jahren als ständiger Musikreferent an der Wiener „Neuen freien Presse“ thätig, kann ich in langem Rückblicke das stetige Anwachsen der weiblichen Concertgeber messen. Es geht mit der Claviervirtuosität in Deutschland jetzt ungefähr so, wie in England mit der Romanschriftstellerei – beide sind fast gänzlich in den Händen der Damen. Wenn wir englische Buchhändleranzeigen durchsehen, so kommt etwa auf ein Dutzend Romane von weiblichen Autoren einer von männlicher Herkunft; eine Heerschau über unsere Concertzettel ergiebt ungefähr dasselbe Verhältniß zwischen Pianisten und Pianistinnen. Ja, in mancher Saison verschwinden bereits die Claviervirtuosen völlig gegen die Uebermacht ihrer „tastenden“ Schwestern. Daß die jetzt überall etablirte Fräuleinherrschaft auf dem Clavier weder dem Fräulein noch dem Clavier zu großem Vortheil ausschlägt, wird jeder Kundige zugeben. Die Analogie mit den Romanschriftstellerinnen hört auch bezüglich der Qualität nicht ganz auf: wir haben viele tüchtige Pianistinnen, einige vorzügliche, nur hier und da erreicht einmal eine die Höhe ausgebildeter männlicher Kunst. Dies bleibt eine Ausnahme, welche die Regel nur bestätigt, die Regel, daß die Frauen durch ihre zartere physische wie geistige Organisation auf ein engeres Kunstgebiet, meistens das der Klein- und Feinmalerei beschränkt bleiben und selbst in ihrer glänzendsten Repräsentation ein Letztes, Entscheidendes in der Kunst vermissen lassen. Von den praktischen, socialen Nachtheilen des überhandnehmenden Virtuosenthums junger Damen möchte ich am liebsten ganz schweigen. Wer fühlt nicht das innigste Mitleid mit all diesen jungen Mädchen, die das Pianospielen zum Lebenszwecke erwählen und auf das bischen Virtuosität eine Existenz gründen wollen! Nur zu sicher kommt die Reue darüber, so unendlich viel Fleiß und Mühe auf eine Kunstfertigkeit verwendet zu haben, die als öffentliche Production sich nicht mehr lohnt, die ja kaum noch interessirt.

Vor Kurzem sprach Dr. Otto Gumprecht in Berlin in gleichem Sinne sehr eindringliche Worte, die gerade für den Leserkreis der „Gartenlaube“ nicht verloren gehen sollen.

„Der massenhafte Andrang des weiblichen Geschlechts zum Virtuosenthum,“ schreibt Gumprecht, „ist eine böse Krankheitserscheinung der Zeit. Alle Väter und Mütter sollten sich zwei- oder dreimal besinnen, bevor sie den höchst verantwortlichen Entschluß fassen, ihre Töchter zu Künstlerinnen oder auch nur zu Musiklehrerinnen zu erziehen. Die Frage, von deren Beantwortung hier Alles abhängt, die nach dem Talent, kommt dabei gewöhnlich gar nicht in Betracht. Köchinnen, Näherinnen, Verkäuferinnen sind ungleich nützlichere und fröhlichere Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, als jene bedauernswerten Geschöpfe, die ohne jeden inneren Beruf zu Pianistinnen gedrillt werden, um ihr Lebenlang nur sich und Anderen zur Last zu sein. Gerade das Clavier leistet mit seinen von Haus aus fertigen, von aller Unreinheit bewahrten Tönen der leidigen musikalischen Massendressur den verhängnisvollsten Vorschub. Genug des Unfugs wird auf den Tasten jahraus jahrein in den Familien und in den Salons getrieben. Zu verhindern, daß er sich nicht auch in der Oeffentlichkeit breitmache, ist eine gebieterische Pflicht der Tageskritik. Die Sache hat wirklich ihre sehr ernste Seite. Wie viel Zeit und Kraft wird nicht fort und fort an den Erwerb der danklosesten, unfruchtbarsten Fingerbravour verschwendet! Selbst dem Talente ist heutigen Tages die Claviervirtuosen-Laufbahn mit Dornen besäet. Von ihr gilt Wort für Wort, was Goethe einst von der dichterischen Production gesagt: ,Das ganze Unheil entsteht daher, daß die poetische Cultur in Deutschland sich so sehr verbreitet hat, daß Niemand mehr einen schlechten Vers macht. Die jungen Dichter, die mir ihre Werke senden, sind nicht geringer als ihre Vorgänger, und da sie nun jene so hoch gepriesen sehen, so begreifen sie nicht, warum man sie nicht auch preiset. Und doch darf man zu ihrer Aufmunterung nichts thun, eben weil es solcher Talente jetzt zu Hunderten giebt und man das Ueberflüssige nicht befördern soll, während noch so viel Nützliches zu thun ist. Der Welt kann nur mit dem Außerordentlichen gedient sein.‘“

Nur wenn einflußreiche Stimmen, wie die eben gehörte, nicht müde werden zu warnen, – wenn unsere Conservatorien der Ueberproduction an Pianisten und Pianistinnen entgegenwirken, anstatt sie leichtsinnig noch zu befördern, – wenn endlich Jeder von uns im eigenen Kreise seine Kraft dagegen einsetzt, dann und nur dann ist es zu hoffen erlaubt, daß die Geißel, die man schauerlich genug „Clavierseuche“ nennt, allmählich mildere Formen annehmen und künftighin weniger Opfer, auf der spielenden wie auf der hörenden Seite, fordern werde.




Eine „monumentale“ Geschichte.
Launiges aus der Zeit der schweren Noth.

Es war gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, der Corse begann Europa seine Gesetze zu dictiren. Die Heere der „siegreichen Republik“ hielten das linke Rheinufer besetzt und französische Behörden nisteten sich allerorten ein.

Es brach eine schwere Zeit an für deutsche Herzen!

Auch die alte Selbstständigkeit der „freien Haupt- und Kronstadt Aachen des heiligen römischen Reichs“ wurde zu Scherben vor dem gewaltthätigen Eroberer. Französische Generäle waren die Gebieter der Stadt.

Der ganze Apparat gallischer Volksbeglückung wurde sofort in Scene gesetzt – Wohlfahrtsausschuß, Jacobinerclub und Freiheitsbaum. Die neuen Gewalthaber räumten gründlich auf in dem Wesen der ehrwürdigen Stadt. Auch die alte Gerichtsordnung wurde umgestoßen und mit ihr deren äußere Zeichen – das peinliche Hochgericht vor dem Königsthor und der Pranger oder die Strafsäule, das Gerichtszeichen des Rathes.

Diese Schandsäule, im Volksmunde Kaaks, auch Kaatsch genannt, erhob sich, ein schwarzer Granitsäulenstumpf, über vier breiten Stufen von gleichem Material, auf dem hinter dem Rathhause gelegenen Gerichtshofe, wo das öffentliche Sendgericht zu tagen pflegte.

Unter Vorantritt des Wohlfahrtsausschusses, sowie der unentbehrlichen „Jungfrauen“ mit Phrygischer Mütze, zog die Menge, durch glühende Reden begeistert, dorthin, und unter dem unermeßlichen Jubel der Anwesenden wurde das unliebsame Zeichen der strengen Herrschaft des Rathes umgestürzt.

Der Säulenstumpf, sowie die Stufen wurden von den bei solchen Gelegenheiten stets vorhandenen arbeitslustigen Händen in das „Grashaus“ geschleppt. Der eiserne Halsring der Säule ging wohl bei diesem Transport verloren und so lag sie bald, ihres früheren Charakters gänzlich entkleidet, unter anderem städtischen Baumaterial, welches dort aufgestaut war. Draußen auf dem Platze aber erhob sich an ihrer Stelle der blumengeschmückte Freiheitsbaum, und um denselben begann die obligate Feier.

Andere Zeiten zogen herauf. Aus dem ersten Consul war der stolze Imperator geworden, und wenn Aachen in den ersten Jahren auch materiell mächtig aufblühte, so ruhte die Fremdherrschaft doch schwer auf der stolzen Stadt, welche, ihrer früheren politischen Bedeutsamkeit beraubt, als einfache Departementsstadt den Präfectenzügel unwillig ertrug, und den alteingesessenen Bürgern brannte die Fremdherrschaft in der Seele. Vergebens bemühten sich die Präfecten in späterer Zeit die Gemüther für die Napoleoniden zu gewinnen, wenn sie auch Alles aufboten, um in den jeweilig in Aachen weilenden Mitgliedern des Kaiserhauses den Glauben, daß die Volksliebe mit ihnen sei, zu erwecken. …

Ein ganz besonderes Gefallen hatte Napoleon’s Lieblingsschwester, die schöne Pauline Borghese, an Aachen gefunden und weilte gern in der leichtlebigen Badestadt, in welcher zu jener Zeit außerordentlich viel „Welt“ zusammenzuströmen pflegte. Hohes Spiel, vornehmer Cercle und reizende Umgebung waren

für sie die mit den berühmten Bädern gleich anziehenden Reize des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_575.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2022)