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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Es war nichts Seltenes, daß, wie Justus Möser klagt, schon Schulmädchen goldene Uhren bekamen.

Unsere Kinderbälle, auf denen Knaben und Mädchen sich wie Erwachsene geberden, sind nichts Schönes, aber auch nichts Neues. Man betrachte nur die Bilder der geputzten Kinder und lese ihre Gespräche in „Weiße’s Kinderfreund“, der doch zu den Schriften gehört, welche die Zurückführung der Erziehung zu größerer Natürlichkeit und Einfachheit sich zum Zwecke setzten.

Unsere Trachten – bei Männern und Frauen – wenn auch bisweilen unschön, sind doch im Vergleiche mit denen des 17. und 18. Jahrhunderts unendlich einfacher, natürlicher, sittsamer und minder kostspielig geworden. Selbst die übertriebensten heutigen Damenmoden reichen nicht entfernt an die thurmhohen Toupets, die verkünstelten Taillen, die Schönpflästerchen im Gesichte und andere Thorheiten unserer Aeltermütter; unsere ärgsten Stutzer sind unendlich einfacher gekleidet, als die Incroyables einer früheren Zeit mit Galadegen, Chapeaubas, langem Stock mit goldenem Knopf, goldener Dose, Stutzperrücke, galonirtem, buntseidenem Rock, langer Schoßweste, Escarpins oder Schnabelschuhen mit goldenen Schnallen.

Man klagt endlich über den „Materialismus“ unserer Zeit, der, wie man meint, den „Idealismus“ einer früheren Zeit ertödtet habe. Man beruft sich darauf, daß unsere Jugend, auch unsere studirende, in nüchterner Berechnung nur hastig nach einer „Versorgung“ strebe, nur das dazu Nothwendige, viel weniger das zu einer idealen Bildung Gehörige in’s Auge fasse, daß die Sucht nach materiellem Gewinne und Genusse Alles beherrsche, daß selbst das höchste Lebensverhältniß, die Ehe, viel häufiger aus diesem Gesichtspunkte, als aus dem idealen einer wahren Herzensneigung behandelt werde. Wir weisen diese Klagen nicht schlechthin von der Hand, aber wir warnen auch hier vor einem einseitigen und vorschnellen Urtheile. Was den Wettlauf nach Versorgungen betrifft, so war er zu den Zeiten unserer Aelter- und Urälterväter wohl kaum geringer, als heute, nur mit dem Unterschiede, daß der Weg dazu, der heute durch eine Reihe von Prüfungen mühsam erschlossen wird, damals großentheils ein leichterer, freilich auch viel weniger sauberer war, denn er ging nur zu oft durch allerhand Hinterthüren der Gunst, Protection, auch wohl Bestechung. Speculationsheirathen waren früher nicht seltener, als heute; angesehene Gelehrte des vorigen Jahrhunderts bekennen sich zu solchen in ihren Selbstbiographien mit einer Offenheit, die für uns Heutigen etwas Verletzendes hat; außerdem sprachen die damaligen Väter sich fast allgemein das Recht zu, über Herz und Hand ihrer Töchter lediglich nach derartigen äußeren Rücksichten zu verfügen. Das Streben nach Erwerb endlich war jener älteren Zeit gerade so eigenthümlich wie der heutigen, nur daß die Mittel der Bereicherung damals ebenfalls oft viel weniger löbliche waren, weil auch im Wirthschaftsleben Begünstigung und Bevorrechtung, Monopol, Privilegium und andere äußerliche Factoren eine größere Rolle spielten, als die freie, tüchtige Selbstthätigkeit des Einzelnen.

Wie dürfte man auch einem Jahrhunderte die Fähigkeit zu idealem Schwunge absprechen, das im Verlaufe zweier Menschenalter zweimal eine so allgemeine, so begeisterte patriotische Erhebung gesehen hat, wie die unseres Volkes 1812 bis 1813 und wiederum 1870 bis 1871? Und nicht geringer wohl ist die Kraft der Opferfähigkeit anzuschlagen, welche in unsern mancherlei innern politischen Kämpfen so Viele an ihre nationalen oder freiheitlichen Ideale Alles sehen ließ. Denn gewiß hat unser Uhland Recht, wenn er singt:

„Der Dienst der Freiheit ist ein schwerer Dienst;
Er trägt nicht Gold, nicht Ehrenstellen ein,
Er bringt Verbannung, Kerker, ja den Tod.
Und doch ist dieser Dienst der höchste Dienst!“

Welche „materiellen“ Beweggründe hätten denn wohl jene mehr als 600 Männer 1848 nach Frankfurt am Main geführt, die dort in schwerer, mühevoller und undankbarer Thätigkeit ein ganzes Jahr lang an einer Neugestaltung Deutschlands arbeiteten? Oder welche „materiellen“ Beweggründe lassen jetzt Jahr für Jahr viele Hunderte einen kostbaren Theil ihrer Zeit und ihrer Kraft den Geschäften des Reichs und der Einzelstaaten widmen? Mit wie schweren materiellen Opfern mußten jene wackeren Schleswig-Holsteiner, die Jahrzehnte lang für deutsches Recht und deutsche Nationalität kämpften und litten, mußten jene verfassungstreuen Kurhessen, die sich der Willkürherrschaft eines Hassenpflug nicht beugen wollten, ihre Ueberzeugungstreue büßen! Und selbst die Vielen, welche ihr deutsches Vaterland verlassen und in die Verbannung wandern mußten, weil sie ihre Freiheitsideale auf Wegen gesucht hatten, welche sie mit den bestehenden Gesetzen und deren Vollziehern in Conflict brachten – ihr Vorgehen kann man tadeln, aber des Idealismus, wenn auch eines irregehenden, wird man sie schwerlich bar erklären können.

Uebrigens wollen wir doch nicht vergessen, daß wir Deutsche lange Zeit hindurch etwas allzu viel Idealisterei getrieben haben, daß es uns bitter noth that, aus einem bloßen „Volke von Denkern und Dichtern“ endlich eine Nation zu werden, die auch in der realen Welt ihre Stellung behauptete, daß aber dazu eine etwas einläßlichere Beschäftigung mit praktischen und materiellen Interessen nicht zu entbehren war. Sollten wir dabei wie das bei solchen Rückschlägen wohl zuweilen geht – etwas zu weit auf die andere Seite gekommen sein, so wird sich das schon wieder in’s rechte Gleichgewicht setzen. An Dichtern und Denkern haben wir auch jetzt keinen Mangel, und leicht dürfte das deutsche Volk unter allen Völkern noch immer das idealste sein.

Auch das „deutsche Gemüth“, diese köstliche Blüthe unseres Volksthums, hat wahrlich noch nicht Schaden gelitten und wird es hoffentlich auch ferner nicht! Wir schwärmen jezt etwas weniger, als in der Periode der Empfindsamkeit; allein an echter Freundschaft und echter Liebe fehlt es auch heute nicht. Und ebenso wenig an echter Humanität! Allen Respect vor jenem Freunde des edlen Gellert, der, statt „das Rhinoceros zu sehen“, sein Achtgroschenstück einem Bettler gab; allein schwerlich braucht, dem gegenüber, die Gegenwart zu erröthen. Zählen doch die Gaben der Liebe, die bei jedem Leid – in der Nähe oder Ferne, im In- oder Auslande – nach allen Seiten hin und von allen Seiten her so reichlich fließen, jährlich nach Hunderttausenden, wenn nicht nach Millionen. Oder könnte man wirklich eine Zeit gefühllos nennen, welche in Kinderbewahranstalten, Volksküchen, Feriencolonien, Asylen für Obdachlose, in einer wohlorganisirten officiellen und freiwilligen Armen- und Krankenpflege, in der Errichtung von Spar-, Vorschuß-, Kranken- und Alterscassen und in noch vielen anderen ähnlichen Anstalten eine Fülle werkthätiger, schöpferischer Humanität entfaltet, die besser ist, als jene schönen Worte oder jene Thränen, durch die man früher häufig sich mit seinem Mitleid abfand?

Nein, unsere Zeit kann wohl eine Vergleichung aushalten mit jeder frühern. Wenn früher da und dort Einzelnes besser war, als heute, so ist wieder heute Anderes besser, als früher, vielleicht sogar mehr und Wesentlicheres. Wohl sollen wir ein offenes Auge haben für die Schwächen und Schattenseiten, die ganz gewiß unserer wie jeder Zeit anhaften, und sollen rüstig und unverdrossen die bessernde Hand anlegen, wo immer es noth thut. Nur muthe man uns nicht zu, das Frühere darum für das Vollkommenere zu halten, weil es eben das Frühere war, noch weniger aber, offenbar Ueberlebtes und nicht mehr Lebensfähiges künstlich in’s Leben zurückzugalvanisiren und dadurch mit dem unaufhaltsamen Culturfortschritte der Menschheit gewaltsam zu brechen. Vorwärts, nicht rückwärts! muß die Losung sein für unsere und für jede Generation, denn so nur gehorchen wir dem ewigen Gesetze der Menschheit und der Menschengeschichte.

Wir haben uns im Laufe dieser Betrachtungen wiederholt auf Zeugnisse zeitgenössischer Kenner und Beobachter der allgemeinen Culturzustände berufen: wir wollen dieselben auch mit einem solchen schließen, und zwar mit dem Zeugnisse eines Mannes, der drei Generationen an sich vorübergehen sah, der ein gut Stück des vorigen und mehr als die Hälfte des jetzigen Jahrhunderts erlebte, der nicht zu den Liberalen, sondern zu den Conservativen zählte, der in seinen religiösen Anschauungen eher der älteren Zeit nahestand, als der Gegenwart: des ehrwürdigen Ernst Moritz Arndt. Er ruft den einseitigen Lobrednern der Vergangenheit warnend zu:

“Weg mit Vormals, weg mit Weiland!
Thoren, laßt die Todten ruh’n!
Denn das Weiland war kein Heiland,
Und kein Satan ist das Nun.
Lebt mit den Lebenden fröhlich und frisch!
Solche nur ladet die Welt zu Tisch.“


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_643.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)