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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

W. Heimburg.

Seit mehreren Jahren bereits gehört Wilhelmine Heimburg zu den Lieblingsautoren des lesenden Publicums, namentlich der Frauenwelt. In ihrer schlichten, aber von echtem poetischem Geiste durchwehten Erzählungsweise hat sie eine Reihe feinempfundener Novellen geschrieben, welche sich weit über das Niveau dessen emporheben, was unsere productionslustige Zeit hervorbringt, um ein kurzes, ganz unberechtigtes Dasein zu führen. Wie es wohlthuend berührt, wenn wir in einer Gemeinschaft von so und soviel ungebildeten, Halbgebildeten oder verbildeten Menschen einer feinen, wahren, harmonisch entwickelten Natur begegnen, so empfindet der Literaturfreund ein ähnliches Gefühl des Behagens, trifft er auf Bücher, die einem liebenswürdigen Charakter zu vergleichen sind. Und liebenswürdig sind sie alle die Novellen, mit denen W. Heimburg uns beschenkt hat, liebenswürdig wie man sie selten findet in unserer nach Sensation und greller Abwechselung strebenden Zeit; frei von jedem Flitter modernen Aufputzes, voll Poesie, voll Einfachheit, Frische und Ursprünglichkeit. Die Stärke der Dichterin liegt nicht in der Composition, nicht im Ausmalen äußerlicher Conflicte, sensationeller Scenen und Situationen, – sondern die Bedeutung ihres großen Talentes wurzelt in der Innigkeit, in der frauenhaften Gemüthstiefe, mit der sie Seelenkämpfe und Herzensgeschichten lebenswahr und schlicht zu erzählen versteht.

Die Ausmalung des Frauencharakters ist ihre Force, wenn man so sagen darf. Sei es das junge innige Mädchen oder die alte treue Dienerin, sei es die kokette Salondame oder die Hausfrau von altem Schrot und Korn, immer stehen uns diese Gestalten in klaren Umrissen vor Augen, fein gezeichnet bis auf die kleinsten Züge, und immer schwebt über diesen tiefempfundenen Schilderungen der Hauch echter Poesie, fesseln uns hier und da schwermüthige an das deutsche Volkslied gemahnende Verse, wie denn überhaupt die Erzählungen, selbst in den glücklichsten Situationen, von einem Aeolsharfenton leiser Trauer und inniger Schwermuth durchzittert sind.

W. Heimburg.
Nach einer Photographie von Fritz Bornträger in Wiesbaden, für die „Gartenlaube“ auf Holz gezeichnet von R. Huthsteiner.

Wilhelmine Heimburg, ihr wahrer Name ist Bertha Behrens, wurde zu Thale am Harz geboren, wo der Vater als praktischer Arzt lebte, nachdem er ein Jahr zuvor daselbst seinen jungen Hausstand begründet hatte mit einer blauäugigen lieblichen Försterstochter, die er als Student auf einer Ferienreise kennen gelernt – die kleine Bertha war das erste Kind, das dem jungen Paare geschenkt wurde an einem köstlichen Septembertage. Durch die geöffneten Fenster rauschte die Bode ein Wiegenlied, flüsterte der Wald seine Grüße, und unter der Dorflinde sangen im Mondschein die Bursche und Mädchen beim Flachshecheln alte Volkslieder des Harzes.

Wie oft hat die Mutter das dem Kinde erzählen müssen!

Und an der Wiege saß eine Großmutter, wie es keine bessere wieder gegeben hat! – Das großelterliche Haus wurde denn auch, als der Vater zwei Jahre später, nach der Geburt eines Sohnes, Thale verließ und nach dem benachbarten Quedlinburg übersiedelte, um sich der militär-ärztlichen Carrière zu widmen, der Wohnsitz aller Jugendherrlichkeit. So oft als thunlich holte sich die Großmutter ihre kleine Enkelin, und dort, am Fuße des Roßtrappefelsens, trieb das Kind seine Spiele in sonnigen Sommertagen, im Walde und am Ufer der Bode. Und wenn die Herbststürme über die Berge tobten, der Regen gegen die Fenster des traulichen Forsthauses schlug und der Wald rauschte wie ein brandendes Meer, dann saß es sich herrlich im warmen Stübchen zu den Füßen der Großmutter, die so köstlich erzählen konnte. Wunderbar verwob sich Wirklichkeit und Dichtung vor den Augen des Kindes, da sprachen die Bäume und das Wasser, da gab es Elfen und Kobolde, und der wilde Jäger zog in den Sturmnächten über das einsame Haus, daß sich das Kind erschreckt an die Erzählerin schmiegte.

Dann kamen die Lehrjahre. Das Kind ward früh in die finstere Schulstube gesperrt, „weil es so gar viel fragte“. – Mit vier Jahren las sie schon, eine Musterschülerin ist aber nicht aus ihr geworden. Sie war beständig zerstreut, dachte an viel schönere Dinge, als der Lehrer sie vortrug, und vom Rechnen ist nie eine Spur in dem blonden Kopfe haften geblieben, es war neben dem schrecklichen Strickstrumpf das Verhaßteste, was es gab. Die einzigen Unterrichtsfächer, denen sie Geschmack, aber auch viel Geschmack, abgewann, waren: Deutsche Sprache und Literaturgeschichte. Nach der Confirmation hörte das Lernen leider noch immer nicht auf; die Privatstunden nahmen ihren Fortgang, und der Glanzpunkt derselben ist die Malstunde bei einem tüchtigen Landschafter. Das junge Mädchen besitzt keine Spur von Talent, statt dessen macht sie Unsinn, und die ganze Gesellschaft der Mitschülerinnen und Freundinnen lacht; der Herr Lehrer will ernst bleiben, aber vergeblich! Er setzt sich an ihren Platz, bringt die verunglückte „Studie“ in Ordnung und sagt: „Na, lachen Sie nur, Kind, lachen Sie nur!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_648.jpg&oldid=- (Version vom 15.10.2022)