Seite:Die Gartenlaube (1884) 678.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

der lebhafte und merkwürdige Verkehr auf den Straßen, die zahllosen Schiffe und Kähne, alles Das vereinigt sich zu einem Bilde, welches ebenso lebendig als charakteristisch ist.

Am zweiten Tage um vier Uhr nahmen wir an Bord unseres „Schwan“ Abschied von unseren Amsterdamer Wirthen, und am anderen Morgen erwachten wir Angesichts der Insel Walcheren und ihrer alten Stadt Vlissingen. Sie ist der Geburtsort des berühmtesten Seehelden des 17. Jahrhunderts, des Admirals Michiel Adriaanszoon de Ruyter; auch hat Vlissingen zuerst von allen niederländischen Städten 1572 die Fahne der Unabhängigkeit aufgepflanzt. Von hier ging es an Südbeveland vorbei, wovon ein Theil in Folge von Damm- und Deichbrüchen im Jahre 1532 „verdronken“, in der Osterschelde, und bald waren wir in Antwerpen, der mächtigen Concurrentin von Amsterdam, deren großartige Blüthe datirt von der Beseitigung des Scheldezolles der Holländer durch die Ablösung von 1863. Wir wurden hier durch ein Comité, an dessen Spize der deutsche Consul stand, und zu welchem zahlreiche hier ansässige Deutsche gehörten, nicht minder freundlich wie in Amsterdam empfangen und zunächst nach dem Rathhause in den großen Saal geleitet, wo uns der Bürgermeister de Wael, eine Hauptstütze der liberalen Partei dieses Landes, in französischer Sprache begrüßte und der Senator Versmann in unserem Namen deutsch antwortete, nachdem Herr de Wael versichert, daß er Deutsch verstehe.

Diese beiden vortrefflichen Reden machten um so mehr Eindruck, als derselbe unterstützt ward durch die historische und künstlerische Ausschmückung des großen Saales, welcher auch „la salle Leys“ genannt wird. Seine Hauptzierde sind die Wandgemälde, mit welchen H. Leys dies Zimmer geschmückt hat. Obgleich dieselben aus der Zeit von 1864 bis 1869 datiren, so wollte doch Mancher darauf wetten, sie seien alt und gut restaurirt. So gut ist der Ton des 16. Jahrhunderts getroffen. Die Stoffe sind der Geschichte der Stadt entnommen und bringen deren Rechte und Freiheiten in anschauliche Erinnerung. Da sehen wir alle jene Fürsten, welche die Stadt mit Rechten und Freiheiten begabten, von Gottfried von Bouillon (1096) bis zu Philipp dem Schönen von Spanien (1491). Wir sehen, wie Karl V. bei seinem feierlichen Einzuge (1514) schwört, die Freiheiten der Stadt zu achten und aufrecht zu erhalten; wie der Bürgermeister, als oberster municipaler Kriegsherr, seine Anordnungen trifft und namentlich 1542 dem Schöffen C. van Spangen den Auftrag zur Vertheidigung der Stadt giebt; wie während der Unruhen von 1567 Margaretha von Parma dem Bürgermeister die Schlüssel der Stadt überreicht etc., Alles mit lebensgroßen Figuren und in lebhafter und doch harmonischer Farbenpracht. Die Architektur zeigt den Stil italienischer Frührenaissance, die Decke das Wappen der Stadt (neben dem Schilde zwei ausgestreckte Hände) und die Schilder der verschiedenen Zünfte. Das große Marmorkamin paßt zu dem Ganzen. Das Rathhaus selber imponirt durch seine Masse. Sein Aeußeres zeigt ebenfalls einen consequent durchgeführten Renaissancestil, unten große Laubengänge oder Hallen, oben einen thurmartigen Mittelbau. Die hohen Gildehäuser, welche den Markt umgeben, tragen dazu bei, den Eindruck zu erhöhen.

Nach dem feierlichen Empfange zerstreuten wir uns in die Stadt, indem Jeder seinen besonderen Liebhabereien nachging. Es ist merkwürdig, was dieses alte Antwerpen, im Vergleiche zu dem verhältnißmäßig jungen Amsterdam, in seinen meisten Theilen für einen modernen Eindruck macht. Der Grachten sind nur noch wenige, der schönen und großen Bassins desto mehr. Ein Theil derselben ist von Napoleon I. erbaut. Er erkannte die mercantile Bedeutung des Ortes und leistete derselben durch diese Anlagen Vorschub, aber gleichzeitig verfolgte er eine Handelspolitik, welche durch ihre Feindseligkeit diese guten Absichten vereiteln mußte. Durch die Continentalsperre wollte er England von dem Festlande ausschließen, in Wirklichkeit aber schloß er sich und die ihm direct und indirect unterworfenen Länder von der See aus. Was früher Napoleon that, das that später der Scheldezoll, der die Entwickelung des Antwerpener Handels hemmte und unterdrückte. Erst seitdem dieses künstliche Hemmniß beseitigt ist, gelingt es Antwerpen, immer mehr die natürlichen Vortheile seiner Lage auszunuzen, worin es durch die Gotthardbahn eine kräftige Unterstützung findet. Auch die große Citadelle, welche früher am südlichen Ende der Stadt lag und dieser in ihrer Entwickelung im Wege stand, ist geschleift und durch detachirte Forts ersetzt worden. Beiläufig bemerkt, ist es uns aufgefallen, daß man, obgleich hier doch der Hauptwaffenplatz des Königreichs ist, so wenig Soldaten und fast gar keine Officiere (welche sich in der Regel der Civilkleidung bedienen) in der Stadt sieht. Dafür erblickt man desto mehr Priester und Mönche. Unter dem jetzigen Ministerium könnte Belgien ein zweiter Kirchenstaat werden, wenn nicht unser Herrgott dafür gesorgt hätte, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Auf dem großen Terrain der ehemaligen Citadelle entfaltet sich eine lebhafte Bauthätigkeit. Die überall abgesteckten Straßen sind schon vielfach mit Häusern besetzt, sowohl mit sehr einfachen, als auch mit recht prachtvollen, zum Theil in einem etwas schwerfälligen Renaissancestil. Auf den noch unbebauten Ländereien wird der Palast für die im Jahre 1885 hier stattfindende Weltausstellung errichtet. Man ist schon mitten in den Vorbereitungen begriffen und hofft, daß sich auch Deutschland an derselben thatkräftig betheiligt.

Wie sehr Antwerpen seine Stellung begreift, beweisen die großartigen und zweckmäßigen Anlagen längs des Ufers der Schelde, welche den Vergleich aushalten mit den Verbesserungen, die London gemacht hat längs der vormals so öden und wüsten Ufer der Themse. Unsere Abbildung S. 676 zeigt die in der Umwandlung begriffenen Schelde-Quais, dahinter die Stadt mit dem mächtigen Thurme der Kathedrale. Früher stand hier ein Stadttheil von meist kleinlichen und ärmlichen Häusern. Die Güter, welche hier ausgeladen wurden, mußten vorläufig da liegen und warten, bis sie von den sogenannten „Nazjen“ (welche man bei uns Markthelfer oder Rheinschnaken“ nennen würde) weiter gewälzt wurden. Die Bahnhöfe hatten keine Verbindung unter einander und mit dem Hafen. Ein wirklicher Centralbahnhof bestand nicht.

Jetzt ist man im Begriffe, wie dies Senator Versmann treffend ausdrückte, die Aufgabe zu lösen, einen allen Anforderungen entsprechenden Quai herzustellen mit Schuppen und allen sonstigen Erfordernissen, die Eisenbahn über denselben zu führen und „die Schienenwege in die unmittelbare, engste und zweckmäßigste Verbindung mit der Wasserstraße und deren Fahrzeugen zu bringen“. Die Anlagen sind noch nicht ganz fertig, aber Das, was fertig ist, bietet die Bürgschaft einer raschen Ausführung (man hat erst 1881 mit derselben begonnen) und eines vollständigen Gelingens. Unsere deutschen Häfen können hier Mancherlei lernen. An dem neuen Quai legte auch unser „Schwan“ an, und der Unterschied zwischen Ebbe und Fluth war an diesem Anlegeplatze so groß, daß wir einmal in gleichem Niveau mit der Quaifläche waren, das andere Mal stark hinauf und das dritte Mal stark hinunter klettern mußten, um auf das Schiff zu gelangen, wobei allerlei komische Dinge passirten, namentlich bei denjenigen theuren Gefährten, welche spät in der Nacht aus dem „Münchener Hofbräu“ zurückkehrten, das hier eine vielbesuchte Filiale hat. Sonst trinkt man hier von deutschen Bieren mit Vorliebe Straßburger.

Der Charakter der Stadt ist ganz anders als der von Amsterdam. Sie hat, obgleich ganz vlamisch, doch in ihrem Aeußern einen etwas französischen Typus, erinnert aber zugleich an eine alte vornehme deutsche freie Reichsstadt. Auf der „Place de Maire“ z. B., die so ziemlich den Mittelpunkt, wenigstens für die Fremdlinge, bildet, findet man im unteren Stockwerke ein reges, geschäftliches Leben. Da sind Comptoire, Magazine und Cafe’s und Kneipen. Aber in den oberen Regionen herrscht ein vornehmes Schweigen; da wohnen die reichen Leute; die Fenster sind verhängt; entweder sind die Eigenthümer in den Bädern und Sommerfrischen, oder sie wohnen hinten hinaus nach den Höfen und Gärten zu. Der Ziegelbau, der in Amsterdam herrscht, ist hier verschwunden. Statt der Backsteine sieht man Marmorfaçaden, aber ich kann mir nicht helfen, auch wenn man das für schlechten Geschmack hält: der Marmor ist zwar vornehmer, aber der Backstein ist pittoresker.

Ich muß nun noch der Museen und der Kathedrale, deren Bilder einer besonderen Darstellung bedürfen, des prachtvollen Festes, das uns die hiesige deutsche Colonie in dem „Cercle artistique“ gab, des Hauses der Osterlinge und des „Musée Plantin“ gedenken. Das Letztere ist eine Specialität, welche in allen fünf Welttheilen nicht ihres Gleichen findet und welche immer mehr Besucher anziehen wird, namentlich solche, welche sich für die Geschichte der geistigen und der wirthschaftlichen Cultur, insbesondere

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_678.jpg&oldid=- (Version vom 8.11.2022)