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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


„Vielleicht hat Ihr Gefühl Sie nicht betrogen,“ suchte Melanie zu begütigen, „und der Fehler liegt nur darin, daß Sie Beide nicht verstanden haben, sich richtig zu behandeln, und daß Sie in der Leidenschaft des Kampfes sich haben zu weit hinreißen lassen. Dann wäre eine Aussöhnung immer noch möglich.“

„Nein,“ antwortete er schwermüthig, „es ist, wie sie selbst sagte: unsere Anschauungen sind so weltenweit von einander entfernt, daß keine Brücke sie je verbinden kann. Sie hat kein Herz für das Vaterland, und das trennt uns für immer.“ Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er traurig fort: „Ich kann mir gar nicht denken, wie es in einem Menschen aussieht, der keine Vaterlandsliehe hat. Ich habe sie mit der Muttermilch eingesogen. Jedem Bartenstein ist das Bewußtsein angeboren, daß er mit Gott für König und Vaterland kämpfem und, wenn es nöthig ist, sterben muß. Und ich ginge zu Grunde neben einem Wesen, das in dieser Gesinnung nicht Eins mit mir wäre. Ja, wenn ich sie hätte umwandeln können! Aber es ist Alles vergeblich und Alles, Alles aus. Ich weiß nur nicht, wie ich es ertragen soll!“ schloß er mit versagender Stimme und starrte über die Gesellschaft hinweg in den rosigen Abendhimmel, den die Schwalben leise pfeifend durchschwärmten. „Ich muß mich versetzen lassen, daß ich sie nicht mehr sehe.“

„Glauben Sie, daß Sie Ereme dann vergessen werden?“ fragte Melanie.

„Ich muß,“ erwiderte er rauh. „Es hilft nichts. Hier heißt es: Durch! es koste, was es wolle.“

Er erhob sich.

Kronheim benutzte die Unterbrechung des Gesprächs, um ihn zu fragen, ob er sich an dem Spiele betheiligen wolle.

Bartenstein winkte verneinend.

Da vertrat ihm der Banquier den Weg. Melanie hörte ihn sagen: „Es ist merkwürdig, wie Gold immer Gold anzieht. Unsere Freundin hat heute Nachricht bekommen, daß sie zu ihrer Million auch noch die drei Millionen eines Onkels in Californien geerbt hat. Allerdings macht es sich nöthig, daß sie bald nach Amerika zurückkehrt, um die Angelegenheit zu ordnen. Was sagen Sie dazu?“

Melanie dachte: „Man hofft auf eine Verlobung par dépit. Das ist auch schon oft dagewesen.“

Aber Witold’s Blick glitt über den jungen Geldmann hin. Er zuckte lässig die Achseln. „Sie müssen besser wissen als ich, wann das nächste Dampfschiff abgeht.“ Er ließ ihn stehen.

Melanie drückte den Fächer vor das Gesicht. Ja wohl hieß es: Durch! Sie sah, wie der Banquier mit einer verzweifelten Armbewegung zu seinen Damen zurückkehrte und gleich darauf Kronheim die Miß zum Spiele führte.

Jetzt endlich konnte Doctor Gerhard sich nähern. „Ist das belagernde Kriegsheer abgezogen?“ fragte er gereizt. „Ich hade Sie bedauert.“

„Dazu war keine Ursache,“ antwortete sie gelassen.

„Ich möchte wissen,“ erwiderte er spöttisch, „was Sie an diesen Leuten finden, die mit jeder Miene zu sagen scheinen: ,Geist ist das Ding, das wir Euch Anderen nicht streitig machen wollen. Ihr müßt doch auch Etwas haben.‘“

„Theilen Sie das Vorurtheil der Herren vom Civil gegen das Militär?“ fragte Melanie verletzt.

„Oder Sie die Schwäche der Damen für dasselbe?“ fuhr er heraus.

„Sie haben uns klar gemacht,“ antwortete sie geärgert, „daß Menschen der Reflexion von solchen der That sich angezogen fühlen.“

Er klopfte nervös den Amor auf das warnend erhobene steinerne Händchen. „Seien Sie auf der Hut, gnädiges Fräulein,“ sagte er mit bebenden Lippen, „auf daß Sie nicht das Echte lassen und das Fade fassen.“

Thusnelda erschien. „Herr Doctor,“ bat sie, „es fehlt noch eine Person zum Croquet. Helfen Sie aus.“

„Warum nicht?“ antwortete Gerhard. „Wenn man den ganzen Tag die Gehirnfaser so angestrengt hat wie ich, kann die Beschäftigung, der man sich am Abend hingiebt, um auszuruhen, gar nicht thöricht genug sein.“ Er folgte Thusnelda.

Melanie fühlte sich beleidigt, daß Gerhard gänzlich den Respect vergaß, den er ihr schuldig war, und sich unterstand, sie wie ein junges Mädchen zu behandeln. In ihrer milden Art sagte sie sich aber dann, daß dem sonst immer so mäßigen Gelehrten der Sect in den Kopf gestiegen sei, so gut wie dem braven ausgepichten Oberst, und sie vergab und vergaß es.

Noch einmal glitt ihr Blick über das Schlößchen, dessen mit zersprungenen steinernen Blumenguirlanden überladene Façade im ersterbenden Abendschein wie ein graues Bild hinter der bewegten Gesellschaft stand, gleich einer Mahnung, daß auf jede lustig verlebte Jugend ein entsagungsvolles Alter folgt; über die rasigen Terrassenstufen, wo Gerhard zwischen den Spielenden unmuthig herumfuhr und mit seiner Kugel eine gänzliche VerwirruNg anrichtete, und hinüber auf die in bläulichem Thau schimmernde Wiese, durch die Bartenstein auf seinem flüchtigen „Sturmvogel“ in die dämmernde Nacht hineinjagte, der verlorenen Ruhe nach.

Mit einem tiefen Seufzer verließ sie die Terrasse und fuhr nach Hause.

Auch die übrige Gesellschaft verlor sich allmählich. Es wurde still und leer.

Gerhard stieg zum Fluß hinab und wandelte am Ufer auf und nieder, die Arme über einander geschlagen, das Haupt in schwere Geistesarbeit versenkt. Denn er wußte nicht, wie ihm war und was er wollte.

Unerschrocken, wie er es in seinem Werke von dem Denker verlangte, suchte er in den Tiefen seines Ichs zu forschen. Aber er fand nur den einen klaren Gedanken: Melanie hatte ihn um Anderer willen vernachlässigt.

Das war ihm in seinem Leben noch von keinem der Menschen geschehen, die ihm nahe standen. Seine Lehrer hatten ihn stets als Musterschüler zu oberst gesetzt, seine Examinatoren auf der Universität ihm die besten Zeugnisse ausgestellt, und seine Mutter lag vollends auf den Knieen vor dem vorzüglichen Sohn, der nicht rauchte, nicht trank, keinen Pump anlegte, keine Liebschaften anbändelte.

Nein; auch das Letztere nicht! Woher hätte er dazu die Zeit nehmen sollen in seiner mit Studien überbürdeten Jugend? Melanie war die einzige Dame, mit der er näher verkehrte.

Der Zorn über die Kränkung, die sie ihm angethan hatte, übermannte ihn von Neuem. Wie konnte sie sich zur Entschuldigung ihres ausschließlichen Verkehrs mit den beiden Officieren auf seine Theorie berufen, daß ein Mann der That und eine feingeistige Frau sich von einander angezogen fühlen müssen? In ihm schrie etwas dagegen. Ehe er es ertrug, daß das Leben seiner Theorie auf diese Weise Recht gab, wollte er sie lieber fallen lassen.

Vielleicht war es nicht so schlimm. Der pessimistische Zug seiner Natur ließ ihn wohl zu schwarz sehen. Noch einmal wollte er hinauf zu Melanie, um aus ihren gleichmäßig heiteren Zügen Beruhigung zu schöpfen.

Als er droben ankam, war Alles leer. Auf der Bank, wo sie gesessen hatte, schimmerte etwas Helles. Er bückte sich und hob es auf. Es war eine von den blassen Rosen aus ihrem Haar. Er drückte die kühlen Blätter an seine heiße Stirn.

Als er sich aufrichtete, sah er dem Amor mit der Pelzmütze in das mondbeschienene Gesicht. Es lag wie Spott in den verwitterten Zügen.

Da wurde plötzlich dem armen Doctor eine ganz andere Wahrheit über das Wesen der Liebe klar, als er in monatelangem angestrengten Studiren und Grübeln erforscht zu haben glaubte. Er sah ein, daß er sich verliebt hatte, so einfach und natürlich, wie es ein Confirmandenbruder auch nicht simpler hätte zu Stande bringen können.

Er barg die blasse Rose auf seinem laut klopfenden Herzen.

Und der junge Philosoph stieg nicht in die Tiefen seines Ichs hinein, sondern sein Ich stieg aus der Tiefe der Philosophie heraus, wie aus einer Maske, der das warme Leben die Nase eingedrückt hat. Da stand nun das arme Ich hülflos wie ein neugebornes Kind, verlegen über sich selbst, voll Sehnsucht nach einem warmen Blick aus sanften Frauenaugen, voll bescheidener Wünsche nach einem traulichen Heim, in dem eine altmodische wahre Liebe sich einrichten konnte, voll Hoffnungen und Befürchtungen und voll der Einsicht, daß nicht er über der Liebe, sondern diese über ihm stand.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 704. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_704.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)