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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Mit einem Herzklopfen, das mich zum Denken gänzlich unfähig macht, sehe ich Ihrer Entscheidung entgegen und frage Sie, wann ich dieselbe mir holen darf.
Doctor Max Gerhard.“ 

Melanie ließ erstarrt das Blatt sinken.

Konnte es möglich sein? Hatte sie es richtig verstanden?

So hatte also die alte Pröbstin Recht gehabt! Und sie, die in Bezug auf Andere Hellsehende, war blind gewesen in dem, was sie selbst betraf.

Die Zofe erschien wieder und erinnerte: „Der Diener wartet auf Antwort.“

Melanie raffte ihre Gedanken zusammen. „Ich lasse dem Herrn Doctor sagen,“ bestimmte sie, „daß ich leider nur die Zeit von halb elf bis elf Uhr morgen zur Verfügung habe, da alsdann eine Aufschwörung im Capitelsaale stattfinden wird.“

Die Zofe ging.

Melanie sank erschöpft in einen Fauteuil.

Das waren nun die vielgepriesenen Forschungen der Neuzeit. Die berühmten Aerzte ergründeten die Ursache jeder Krankheit, und der Tod würgte Jung wie Alt; die Geologen stellten die Zeit fest, wann das Erdfeuer erloschen sein würde, und es brach aus und verzehrte sie und ihre Berechnungen; die Philosophen belauschten die Kunstgriffe des Weltwillens, und dieser betrog einen der scharfsinnigen Denker so, daß er eine ältere Dame, die keinen Wunsch als den nach Ruhe hatte, mit einer Liebeserklärung bedrohte, die sie in die peinlichste Verlegenheit brachte.

Ein heftiger Kopfschmerz, die Folge aller aufregenden Erlebnisse, stellte sich ein und zwang sie, sich niederzulegen.

Die Zose mußte die Gardinen in ihrem Schlafzimmer zuziehen, Darling’s blauseidenes Himmelbett hinausschaffen, da Melanie keine Unruhe ertragen konnte, ihr die Stirn mit Eau de Cologne waschen und kalte Umschläge auf den Kopf machen.

Spät erst schlief sie ein, indem sie sich zur Beruhigung sagte: „Bartenstein wird versetzt, Ereme geht nach Griechenland, der arme junge Doctor besteigt seinen Lehrstuhl viele Meilen weit von hier – und ich bekomme Ruhe.“


Als Gerhard am andern Morgen anlangte, fand er das Stift zu der feierlichen Handlung gerüstet, derentwegen Melanie ihm nur eine halbe Stunde bewilligen konnte.

Das große Eingangsthor war geöffnet, die Dienerschaft in Galalivrée. Auswärtige Stiftsdamen und die Herren, welche die reine Stammtafel der neuen Schwester beschwören sollten, fuhren ein.

Er wurde in Melanie’s Salon gesührt.

Sie hatte ihre gelassene Haltung vollkommen wieder gewonnen, und ihre Erscheinung stimmte in ihrer milden Ruhe harmonisch zu der Stiftskleidung. Das schwere schwarze Seidenkleid rauschte ihr nach, auf der Brust funkelten am veilchenblauen Bande die Diamanten des Ordenskreuzes. Ueber den hellbraunen Scheiteln lag der schwarze Schleier.

„Verzeihen Sie, lieber Freund,“ sprach sie, „daß ich Sie hierher bemühte, obgleich mir die Zeit knapp zugemessen ist; aber ich wollte Ihnen doch gern selbst meine Freude aussprechen, daß ein so ehrenvoller Ruf an Sie ergangen ist. Die Zeit, da ich, die Alternde, Ihnen rathen konnte, ist vorüber. So lange der junge Baum schwankt, bedarf er des stützenden Stabes; sobald er selbstständig und fest geworden ist, fällt derselbe morsch von ihm ab, und er schützt dann wieder eine zarte junge Ranke, die sich an ihm emporschlingt.“

Sie wollte ihn freundlich ansehen.

Da stand er vor ihr mit den feinen Zügen, die in angestrengter geistiger Arbeit blaß geworden waren. Die grauen Augen, die so scharf blicken konnten, sahen sie mit einem Blick voll des tiefsten Wehes an.

„Ich muß erkennen,“ antwortete er, „daß uns das Schicksal wohl einmal gestattet, ein ersehntes Ziel zu erreichen, aber nur, um uns zu zeigen, daß es Macht hat, noch im letzten Augenblick dem Glück die Krone auszubrechen.“

Es zuckte schmerzlich um seine Lippen.

„Glück?“ wiederholte sie langsam. „Wenn es Ihnen ein Trost in dieser Stunde ist, eine Genossin zu haben, so lassen Sie mich Ihnen gestehen, daß ich nie im Leben das Gefühl gehabt habe, ich sei glücklich. Ich kann nur sagen: ich habe mich oft zufrieden gefühlt, und zwar nicht dann am meisten, wenn mir ein Wunsch erfüllt wurde, viel eher, wenn es mir gelungen war, auf etwas Ersehntes, welches das Schicksal mir verweigerte, ohne Bitterkeit zu verzichten.“

Sie hatte die Zeit gut berechnet. Die Capitelglocke begann zu läuten, und zugleich klappten nahe und ferne Thüren. Sie reichte ihm die Hand, die er an seine Lippen drückte.

Dann schritt sie an ihm vorüber. Er folgte ihr nach.

Aus der Tiefe des Ganges, der durch das Stift führte, kam das Stapfen der Krücke heran. Jetzt schloß Melanie sich dem Zuge der Damen an, der sich langsam die Wendeltreppe hinab wand.

Er sah sie dahin schreiten im dämmerigen Kreuzgang; ihr wehender Schleier hob sich dunkel ab von den grauen Grabsteinen. an der Wand, welche die Ruhestätten früherer Aebtissinnen des Klosters bezeichneten, die nun schon ein paar Jahrhunderte von ihrem stillen Leben ausschliefen.

Das Stapfen verklang, die rufende Glocke verstummte, die Thür des Capitelsaales schloß sich hinter der letzten Stiftsdame.

Nun denn! er durfte nicht schwächer sein als das zarte Weib, das zu stiller Resignation sich durchgerungen hatte.

Er schritt aus den Stiftsmauern hinaus in das Leben.

Die Stiftsdamen richteten erstaunte und fragende Blicke auf Melanie, als sie des Doctor Gerhard ansichtig wurden; aber diese erzählte mit lächelnder Unbefangenheit: „Der junge Professor – ja, das ist er jetzt – hat mir seinen Abschiedsbesuch gemacht.“

Im Capitelsaale, während der vielen umständlichen Ceremonien fand sie Zeit, ihrer innern Wehmuth Herr zu werden über das Schicksal der Menschheit im Allgemeinen und über das ihres jungen Freundes im Besondern. Sie sagte sich zum Troste: Er wird’s verwinden. Denn was vermöchte der Mensch nicht zu vergessen?


Im Clusiushaus war diese Nacht keine Ruhe geworden. Als Ereme am Abend heimkehrte, theilte sie ihren Entschluß zu reisen den Hausgenossen mit.

„Unverhofft kommt oft,“ rief die Tante, die Hände zusammenschlagend.

Der alte Diener ließ kummervoll das Haupt hängen, und Dorchen kündigte sofort den Dienst.

Aber Ereme blieb unerschütterlich bei ihrer Entscheidung. Dorchen wurde der Abschied bewilligt, der Diener damit getröstet, er solle Ereme nur nach Athen geleiten und dann zurückkehren, um seine alten Tage in Greifenberg in Ruhe zuzubringen, die Tante darauf hingewiesen, daß ihr der lebenslängliche Insitz im Haus gesichert sei.

Die Sammlungen sollten nach wie vor allen Besuchern offen stehen, die Zimmer ihres Vaters unangetastet bleiben. Die Pallas Athene wollte sie der Universttät schenken. In der Aula würde ihr vielleicht ein Platz eingeräumt werden zum Gedächtniß des alten Clusius, des „letzten Hellenen“.

Dann wünschte sie Allen gefaßt eine Gute Nacht und zog sich in die Bibliothek zurück, um die nöthigen schriftlichen Vorbereitungen zu treffen: einen Paß zu verlangen, Abschiedsanzeigen aufzusetzen, einen Anmeldungsbrief an die Freunde in Athen zu verfassen.

Der Diener zündete stumm die Lämpchen an, die an der antiken auf Löwenklauen ruhenden Säule hingen.

So lange sie schrieb, gelang es ihr, die Gedanken fest auf den einen Punkt zu richten, dem sie zustrebte. Nur einmal, da von der Straße herauf lustiger Lärm schallte und ihr anzeigte, daß ausgelassene Studenten einen Nachtwächter neckten und sein Horn zur Ruhestörung mißbrauchten, hielt sie verwundert inne. Gab es denn nur wirklich auf der Erde frohe Menschen? Hatte sie auch einmal lachen können? Es dünkte sie, als liege diese Zeit eine Ewigkeit zurück.

Endlich war die Arbeit gethan. Sie erhob sich. Aber schlafen konnte sie nicht. Sie begann langsam auf- und abzuwandeln.

Die Fenster waren geöffnet, und der hereinziehende Nachtwind suchte des leisen Moderduftes Herr zu werden, den alte Bücher aushauchen, daran gemahnend, daß die Pflanzenfaser des Papiers gleich allen irdischen Dingen keine ewige Dauer besitzt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_750.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2023)