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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


In seiner palastartigen Wohnung war Bouilly, der öffentliche Ankläger der Schreckensherrschaft, von Gedanken eigener Art gepeinigt worden. Es drängte ihn, sich und sein Thun vor den Augen des ehemaligen royalistischen Freundes zu rechtfertigen und diesem – wenn es geschehen könne, ohne ihn, den Beamten der Republik, zu verdächtigen – zu dienen. Als nach Entfernung der letzten Sansculotten sich die Ruhe in seiner Umgebung wieder eingestellt hatte, raffte Bouilly sich zu dem Entschluß auf, den Gefangenen in seinem Gefängnisse aufzusuchen, um der Form nach ein erstes Verhör mit ihm anzustellen, im Grunde aber nur, um mit ihm in dem eben angedeuteten Sinne zu reden.

Im Hofe der ehemaligen Abtei fand der öffentliche Ankläger die Wächter und den alten Pujol, welche beim Weine den gemachten guten Fang feierten, scherzten und lachten und ihr „ça ira“ sangen. Pujol, früher ein armer Seidenweber, war beim Beginn der Revolution als Gefangenwärter in den Dienst der Republik getreten, deren Schreckensmänner ihm später das blutige Amt eines Nachrichters aufzwangen, welches von dem alten Manne fast willenlos ausgeführt wurde. Bouilly winkte ihn zu sich heran und befahl ihm den Kirchenraum aufzuschließen, dann hieß er den Alten sich während des Verhöres des Gefangenen entfernen und draußen seiner weiteren Befehle harren.

Nur wenige Schritte und er befand sich dem Grafen gegenüber. Wiederum blickten beide stumm einander an. Graf René zeigte keinerlei Ueberraschung, er fand das Erscheinen des Beamten der Republik in diesem Augenblick wohl natürlich und erwartete dessen Fragen. Bouilly mußte diese Gedanken errathen, denn seine ernste Miene nahm einen Ausdruck der Theilnahme an, und endlich sprach er nicht ohne Bewegung und dabei sichtlich bemüht, den Ton seiner Stimme zu dämpfen:

„Ich bin nicht gekommen als Ihr Richter, Herr Graf – nur die Erinnerung an vergangene Zeiten hat mich zu Ihnen geführt – um Sie zu fragen, was ich jetzt noch für Sie thun kann.“

Graf René hatte während dieser Worte wie sinnend vor sich nieder geblickt; ohne seine Stellung zu verändern oder das Auge zu erheben, entgegnete er nach einer Pause langsam und mit einem Achselzucken: „Sie werden für mich thun, was Sie in Ihrer Stellung thun müssen: mich auf die Guillotine senden.“

„Ich kann Ihren Proceß in die Länge ziehen, die Untersuchung verwickeln, verzögern und so Ihre Verurtheilung hinausschieben,“ tönte es zögernd und zagend von den Lippen des Richters, als ob er Furcht hätte, durch solche gefährliche Worte in der Trümmerstätte ein verrätherisches Echo zu wecken.

„Wozu?“ entgegnete der Graf. „Muß ich sterben, so ist es besser, es geschieht rasch, als nach einem langen Zögern, das meine Pein nur vermehren könnte.“

„Haben Sie denn keine Sorge um Ihre Familie – keinen Auftrag an dieselbe?“ fragte Bouilly nach einer Pause weiter.

Jetzt fuhr der Graf empor. Einen Augenblick lang schaute er dem Andern erregt und forschend in das Antlitz, dann ließ er das Haupt langsam wieder sinken und entgegnete fast tonlos, doch bestimmt: „Wohl hätte ich einen solchen, doch von Ihnen will ich ihn nicht ausgeführt wissen.“

„Reden Sie, Graf René!“ rief Bouilly hastig und sich vergessend, „ich werde Ihren Wünschen gewissenhaft nachkommen, ich schwöre es Ihnen –“

„Lästern Sie nicht,“ unterbrach der Andere ihn unwillig. „Für den Diener der blutbefleckten Revolution giebt es keinen Gott, keinen Eid mehr.“

Diese Worte riefen eine Wandlung in Bouilly hervor, sein Selbstgefühl empörte sich dagegen. Jäh hob er den Kopf, und während sein Auge nunmehr den Grafen anblitzte, sprach er mit einer Stimme, deren Klang er nicht zu mäßigen vermochte, die immer stärker die weiten öden Kirchenhallen durchtönte:

„Die Ziele der Revolution, der ich diene, sind gewaltige, weltbeglückende, und Männer, groß und edel in ihrem Denken und Empfinden, begeisterten sich für sie, Männer, die durch Geburt und Rang, Wissen und Talente zu den besten Bürgern Frankreichs gezählt werden dürfen, in deren Reihen zu stehen und zu kämpfen keine Schande ist. Sind heute die Mittel, jene Ziele zu erreichen, auch nicht immer zu vertheidigen, zum Theil sogar verwerflich, so wird sich ganz gewiß und schon bald eine Wandlung vollziehen und die Wahrheit glänzend aus diesem Chaos von Trümmern und Blut hervorgehen. Schlagen Sie an Ihre eigene Brust, Herr Graf, und fragen Sie sich, ob Ihre Partei sich frei von Blutschuld bekennen darf, ob sie mit uns nicht gerade so verfahren würde, wie wir mit ihr, wäre sie die Herrin Frankreichs und nicht die einige untheilbare Republik?“

„Robespierre und die Guillotine wollen Sie wohl sagen,“ warf der Graf nach dieser pathetischen Rede mit geringschätzendem Lächeln ein. Da ertönte plötzlich am Eingang die Stimme Pujol’s, der fast überlaut rief:

„Bürger Ankläger, die Sansculotten und Jacobiner draußen im Hofe vernehmen Deine gewaltige Stimme, sie kommen näher, um die Rede zu hören, in der Du die Feinde der Republik niederdonnerst.“

Bouilly schrak erbleichend zusammen. Er hatte sich wirklich vergessen und wurde sich plötzlich der vollen Gefährlichkeit seiner Lage bewußt. Sich, so gut es gehen wollte, beherrschend, sprach er zu dem alten Manne:

„Ich werde das Verhör morgen fortsetzen, bringe den Gefangenen einstweilen in eine der Capellen oder in die Sacristei.“

Hierauf verließ er, ohne den Grafen nur noch einmal anzuschauen, den Kirchenraum.

Der alte Pujol folgte dem Davongehenden mit seinen Blicken; als das Pförtchen sich hinter ihm geschlossen hatte, kehrte er sich dem Grafen zu und redete diesen in seiner mürrischen Weise an:

„Die Sacristei ist sicherer, als die wenigen noch tauglichen Capellen, wenn auch nicht viel besser als diese. Doch lange werdet Ihr wohl nicht drinnen bleiben, denn das Tribunal macht rasche Arbeit, dann müßt Ihr auf meinen Karren. Einstweilen – kommt!“

„Du bist also der Henker,“ sprach Graf René, hinter dem alten Manne dreinschreitend, der ihn über die Trümmer, zwischen den Schutthaufen hindurch nach dem Hintergrund der Kirche und dem Seitenschiff führte, wo die Sacristei lag. „Doch nicht immer triebst Du ein solches Gewerbe, denn auch Dich erkenne ich wieder.“

„Was wißt Ihr von mir,“ brummte Pujol noch finsterer als bisher, „und wie es gekommen ist, daß ich geworden, was ich bin? Hab mein Amt nicht gesucht, es ward mir bestimmt und ein Sträuben hätte nichts genützt. Ich lasse das Messer nur fallen. Andere führen meine Hand und tragen die Verantwortung dafür, nicht ich! Und dann – wer weiß, wozu es noch gut ist!“

„Armer alter Mann!“ sprach unwillkürlich der Graf mit einem Seufzer des Mitleids vor sich hin.

„Wer weiß, wozu es gut ist! sage ich Euch nochmals,“ fuhr der Andere rauh auf. „Und gut war es, daß ich der Henker bin und keiner der Anderen es war. Ich habe keinem Verurtheilten das Ende erschwert, vielen von ihnen einen letzten Dienst erwiesen. Deshalb stelle ich Euch dieselbe Frage, wie vorhin er, der Euch richten wird, es gethan hat. Habt Ihr einen Auftrag an irgend Jemand, so redet, ich richte ihn aus, ich verspreche es Euch – ohne Eid, an den Ihr doch nicht glauben würdet, wenn ich ihn schwüre.“

„Ich glaube an Dein Wort, trotzdem Du der Henker bist,“ sprach Graf René, plötzlich stehen bleibend und den Alten mit tief ernstem Blick anschauend. „Ich habe Dich gekannt, als Du noch ein ehrlicher Seidenweber warst und für die Meinigen arbeitetest. An den Pujol von damals will ich denken und Dir auch heute noch vertrauen. Höre!“

„Schweigt jetzt!“ rief der Andere ihm mit leisem keuchenden Ton und wie in wildzorniger Erregung zu. „Schweigt und folgt mir an einen Ort, wo nur ich Euch hören kann.“

Mit Mühe hatten sie das Chor erreicht, nun bog Pujol nach der linken Seite ab, und beide betraten bald den Raum der ehemaligen Sacristei. Hier sah es etwas besser oder doch nicht ganz so abscheulich aus wie in den öden Kirchenhallen. Der Raum enthielt unter Anderem mehrere breite Schrankbänke, welche zum Aufbewahren der gewöhnlichen Priestergewänder gedient hatten und sich in noch gutem Zustand befanden, somit als eine annehmbare Ruhestatt für die Nacht gelten konnten. Kleine Fenster, mit Eisengittern wohl verwahrt, doch in gewöhnlicher Höhe angebracht, gestatteten durch das Chaos der in dieser fernsten Ecke des Hofes zusammengepferchten Karren hindurch einen Blick auf das große Straßenthor, in dessen Nähe die Sansculotten Wache hielten. In diesem Raume angelangt, sagte der alte Mann, ohne dabei sein mürrisches Wesen abzulegen, nur: „Nun redet!“

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_767.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2024)