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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Goethe zog das eingehüllte Buch aus Christel’s Gürtel und löste das Seidentuch; sie hatte es gut verwahrt. Erstaunt las er auf dem Umschlage seinen Namen.

„Es ist an mich adressirt, so darf ich es als mein Eigenthum betrachten.“ Er riß Schnur und Siegel auf und öffnete das Buch.

Sein Werk „Werther’s Leiden“ fiel ihm entgegen, ein Heft betriebenen Papiers lag in demselben. Erschrocken und verletzt schob er es in die Tasche.

„Sie scheint das Opfer einer thörichten Sentimentalität zu sein,“ sagte er düster.

Der Herzog rief die Parkarbeiter herbei und gebot ihnen, die Leiche in das nächstgelegene Haus, - dasjenige des Oberstallmeisters von Stein, zu tragen.

Frau von Stein kam ihnen erschrocken entgegen, sie ließ das unglückliche Mädchen, welches gestern noch ihr Gast gewesen, auf ein Bett legen.

Man sprach hin und her über das Ereigniß; Herr von Stein ging, den Oberst von Laßberg zu benachrichtigen, der Herzog verließ mit ihm das Haus, und Goethe blieb mit Frau von Stein im Zimmer, neben der Kammer, in welcher Christel lag, allein.

Er saß am Fenster und blätterte in den Papieren, welche er dem Buche entnommen hatte. Es war Christel’s Tagebuch.

Sehr bald übersah er mit tiefem Herzensweh den Zusammenhang und vermochte den Schmerz dieser Entdeckung nicht vor der Freundin zu verbergen.

„Bin ich denn nur in der Welt, mich in ewig unschuldiger Schuld zu winden?“ seufzte er bekümmert. „Hier ein Herz, wie ich es suche, ein Herz, das mir Alles hätte sein und geben können, wenn ich es nur gefunden und auf den rechten Weg gesunder Entwickelung zu leiten vermocht hätte. So aber elend durch mich, verwirrt durch meine Liebe zu Dir, durch meinen ‚Werther‘ und jammervoll zu Grunde gegangen!“

Frau von Stein suchte ihn aufzurichten, sie betonte, wie völlig arglos er bis jetzt Christel gegenüber gewesen, und wie dies ganz ohne seine Schuld über ihn gekommen sei. Es gelang ihr auch nach liebevollem Zureden, ihn zu beruhigen und seine leidenschaftliche Zärtlichkeit zu beschwichtigen, mit der er in sie drang, sich ihm näher als bisher anzuschließen.

Charlottens ebenbürtiger Geist war es, der ihn fesselte; an ihrem ernsten, erprobten Charakter wollte er den seinen stählen. Nur mit einem starken, guten Menschen konnte er glücklich sein; nur ein solcher konnte ihm helfen, weiter zu streben zu immer größerer Klarheit und Wahrheit.

Während dies Alles in seiner Seele wogte und er mit steigender Sehnsucht innerlich die Geliebte umschloß, hatte diese leise einen Strauß frischer Blumen, welche Goethe diesen Morgen aus seinem Garten geschickt, aus der Vase genommen, damit das Zimmer verlassen und war zu der bleichen Todten heran getreten.

Sie löste das Band, welches den Strauß zusammenhielt, und schmückte das zarte Mädchen mit den frischgefärbten Blüthen des Hochsommers, ordnete ihr Kleid gefälliger, um dadurch dem unglücklichen Vater, der jeden Augenblick eintreten konnte, das schreckliche Ereigniß milder vor Augen zu führen.

Als Goethe Herrn von Stein mit dem hastig zuschreitenden Oberst von Laßberg auf das Haus zukommen sah, verließ er, getrieben von einem Unbehagen, das ihn fast wie Schuldbewußtsein drückte, Zimmer und Haus durch Hinterthüren.

Christel’s Vermächtniß hielt er aber fest auf seiner Brust geborgen.


33.

Goethe kam in einer unsäglich zwiespältigen Stimmung in seinem Hause an; er begab sich sogleich auf seinen Altan, wo er in Ruhe die Tagebuchblätter der armen Christel zu lesen und still für sich über ihr Wesen, Leiden und Thun zu sinnen dachte.

Die Sonne stand schon tief, ein warmes, röthliches Licht flammte über die ihm so liebe und beruhigende Rundsicht. Es that ihm wohl, hier Frieden und unverändertes Sein zu finden, wo er sich so aufgestört fühlte, und ihm schien, als müsse vieles um ihn her verschoben sein.

Nie war ihm eine Ahnung von Christel’s Neigung aufgestiegen; ihr stilles, gefühlsseliges Wesen hatte ihn nicht angesprochen. Er konnte nur beklagen, wenn sein „Werther“ diese Richtung ihres Wesens gefördert hatte. Auch ihn beherrschte einst diese Gemüthsstimmung, welche jetzt aber weit hinter ihm lag. Er selbst – das wußte er bestimmt und ersah es aus ihren Aufzeichnungen – hatte ihr keinen Anlaß zu jener unseligen Leidenschaft gegeben, und daß sie seine Neigung zur Stein sich zu etwas Ungeheuerlichem aufgebauscht, stieß ihn als Ungesundheit ab.

Endlich war das Tagebuch durchflogen Welch eine traurige Verirrung, welch ein Schwelgen in süßem Weh! Wie gänzlich abgewandt allen Forderungen des Lebens und der Pflicht! Halb verzogen, halb verwahrlost erschien ihm diese Seele, die doch wieder so viel Innigkeit besaß, daß sie unter verständiger Führung Schmuck und Glück eines Manneslebens hätte werden können.

Während er also nachdachte, hörte er leichte Schritte hinter sich herantrippeln, schaute sich um und begrüßte Luise von Göchhausen, welche knixte und mit möglichst ernsten Mienen sich und ihren plötzlichen Besuch einführte. Würdevoll sagte sie:

„Meine Frau Herzogin hörte von dem stattgehabten Unglücksfall, sie wagte weder zu Laßberg’s noch zu Stein’s zu schicken, wo das arme Kind liegt, um sich des Näheren zu informieren, deshalb erbot ich mich nachzufragen und sprach: ‚Durchlaucht, ich eile zum Doctor Wolf, der steht den Leuten als Dichter und Denker in’s Herz!‘ Ist es wahr, daß jener perfide Schwede die Aermste sitzen ließ?“

„Erst erholen Sie sich und nehmen Sie Platz bei mir, Thusnelda,“ sagte Goethe zu der athemlosen kleinen Dame. „Dann will ich Ihre brennende Neugier mit tröpfelnden Andeutungen, so weit ich darf, zu löschen suchen.“

Die Göchhausen setzte sich ihm gegenüber und blickte ihn mit ihren klugen Augen scharf an.

„Geben Sie so wenig Sie wollen, ich werde mir den Rest combiniren.“

„Wohlan; die arme Christel war eine undisciplinirte Natur, die sich in eingebildete Liebesleidenschaft warf, eine Leidenschaft, von welcher der Betreffende keine Ahnung hatte; so gerieth sie in einen Conflict mit ihrem Heirathsplan und wußte keine andere Lösung als den Tod.“

„Natürlich sind Sie, der Stern Weimars, der Hätschelhans, jener heimlich Geliebte! Aber Sie haben Recht, das nicht auszusprechen. Packen wir ferner alle Schuld dieses Vorfalls auf den schlanken Schweden; der wird sich schwerlich hier wieder sehen lassen. Eine recht betrübende Geschichte! Unerhörtes ist es aber nicht. Wo viele Zahlen mit einander summiren, muß endlich ein Facit gezogen werden, zwischen dem dann auch einige Nullen sind. Es ist eben nach Art und Anlage, wie man eine Niete trägt.“

Sie sah, indem sie dies sagte, plötzlich so tief bekümmert, ja düster aus, daß Goethe sie mit lebhaft aufwallender Theilnahne fixirte.

„Thusnelda, auch Sie ein Herzensweh?“

„Sonderbar, nicht wahr, daß unterm Buckel sich auch dergleichen einnistet?“

„Sie? Karl August?“ fragte Goethe fast unwillkürlich.

„Ja! Während alle wie Närrchen in Sie verliebt waren ging ich meinen eignen Weg. Was kümmert’s ihn, wenn ich ihn liebe? Es ist ja auch kein sentimentales Schmachten mit irgend welchem Anspruch. Sie sind redlicher Camerad genug, diese verzwickte Schrulle des kleinen Kobolds nicht an die große Glocke zu hängen, darum mag’s meinethalben Ihnen zugestanden sein. Was kann man dafür, wenn Einen elementare Kräfte packen? Schlimm genug für das Wesen von Fleisch und Bein in solche Stampfe zu gerathen, und nur gesundes Wollen kann da retten, auf daß man nicht zum Brei alberner Gefühlsseligkeit zerstoßen werde. Passons là dessus! Oder zu deutsch: schuppst die Grillen weg!“

Goethe reichte ihr voll Freundschaft und Anerkennung die Hand. Wie heiter trug sie ihre völlige Hoffnungslosigkeit auf Liebesglück; welch ein tapferer Geist wohnte unter der spottenden, scherzenden Außenseite !

„Ich brauche Ihnen keine Verschwiegenheit zu geloben, Luise,“ sagte er herzlich. „Sie haben Recht, auf unsere gute Cameradschaft zu zählen. Mir dämmerte hier und da eine Ahnung auf von Ihrem Gemüthszustande, aber man läßt sich immer wieder von der Außenseite täuschen und nimmt Ausnahmen an, wo gewisse allgemein menschliche Gefühle die Regel sind.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_791.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2023)