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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Pujol Margot im Vorbeigehen zu: „Nun ist es an der Zeit!“ Dann trat er schwankend, als ob auch er des Weines zu viel genossen hätte, auf das Thor zu, öffnete dies und ließ eine Anzahl Bauern in ärmlicher Tracht ein, von denen einige ihre mageren, abgetriebenen Gäule an der Leine führten.

„Was soll’s?“ schrie Le Borgne, sich mühsam von seinem Sitz erhebend.

„Es sind die armen Teufel, die uns ihre Fuhrwerke liehen, um die gefangenen Aristokraten nach Nantes zu bringen,“ entgegnete Pujol ihm gleichgültig. „Sie kommen, um uns von ihren alten Kasten, die mir hier im Wege stehen, zu befreien. Macht rasch!“ schrie er jetzt den Bauern zu, „wenn ich Euch nicht für die Nacht in meinen Käfig sperren soll. Doch zuerst stärkt Euch durch einen Schluck Wein. – Es sind gute Patrioten,“ wandte er sich wieder zu der Gruppe der Wächter, „und werth, mit wackeren Sansculotten und Jacobinern zu trinken.“

Die Leute näherten sich mehr oder minder furchtsam, und Pujol reichte ihnen Wein, von dem sie tranken. Le Borgne hatte sich erhoben und sprach mit schwerer Zunge hämisch vor sich hin:

„Da will ich doch erst noch einmal nach dem seltenen Vogel sehen, der bereits in der Falle sitzt, damit er mir nicht davon fliege.“

Hierauf wankte er auf die Kirchen- und Gefängnißpforte zu.

Margot war verschwunden.

“Herr Gott!“ murmelte Pujol vor sich hin. „Wenn sie jetzt nicht aufpaßt, ist Alles verloren, und ich bin es mit ihnen.“


Graf René saß in seinem Gefängnisse, der Sacristei, doch nicht entmuthigt blickte sein Auge. Das Verhör, welches er vor seinen Richtern bestanden hatte, war vor der Hand ergebnißlos geblieben. Der öffentliche Ankläger, sein ehemaliger Freund und Jugendgenosse Bouilly, hatte zwar in langer Rede gewaltig gegen die Feinde der Republik gedonnert, doch dabei weit mehr Pathos als Ueberzeugung entwickelt; zugleich hatte er Vertagung des Urtheils beantragt, da man hoffen dürfe, durch weitere strenge Verhöre des Gefangenen einer neuen Verschwörung gegen die Republik auf die Spur zu kommen, womit Richter und Geschworene sich nach kurzer Berathung einverstanden erklärten. Schon dies hatte den Grafen hoffnungsfroh gestimmt und seine herben Gesinnungen dem ehemaligen Jugendfreunde gegenüber gemildert. Die versteckten, doch ihm verständlichen Worte und Blicke Pujol’s beim Verlassen des Gefängnißhofes, das Lied und die Stimme, welche es gesungen, als er wiederkehrte, hatten seinen Muth, seine Hoffnung gehoben und belebt, obgleich der Sang ihn auch wieder mit einer unsäglich peinvollen Unruhe erfüllte, deren er nicht Herr zu werden vermochte, und die sich womöglich noch steigerte, als er in seinem öden Gefängnisse angelangt war und Zeit genug hatte, darüber nachzusinnen.

Wem konnte diese Stimme, deren Klang ihm das Herz erschüttert hatte, angehören? – Es war die seiner Blanche, er vermochte nicht daran zu zweifeln, und dennoch! – wie wäre die Gräfin in den Hof des Gefängnisses, unter die wüsten Sansculotten gekommen? Unbeweglich saß er da und marterte sich in Gedanken ab, Gewißheit über das, was ihn quälte, zu erlangen. Pujol hatte seine Blanche gesehen, sie war in Sicherheit, das wußte er, doch sagte er sich auch, daß der alte Mann es nimmer gewagt haben würde, sie in die Höhle der Jacobiner zu bringen, sie einer Berührung mit solchen eklen entarteten Menschen auszusetzen, wie sie sich um den Gefängnißwärter und Henker versammelt fanden. Seine Sehnsucht hatte ihn wohl getäuscht, so nur und nicht anders konnte es sein. Also sagte er sich und wiederholte es immerfort, und dennoch wollte die ersehnte Ruhe nicht bei ihm einkehren. Wer konnte ihm Gewißheit geben?

Die Zeit verging, der Abend nahte heran, und dunkel wurde es um ihn her. Da hörte er vor den Fenstern seines Gefängnisses Stimmen; es waren die Bauern, welche sich mit ihren Karren beschäftigten, um sie fortzuführen. Zugleich klirrte das Schloß der Thür der Sacristei, und als diese sich halb öffnete, wurde der Kopf Le Borgne’s sichtbar. Sein abstoßendes, von Wein geröthetes Angesicht verzerrte sich in einer häßlichen Freude, als er den Grafen sah, der unbeweglich auf seiner Bank saß und nicht einmal den Blick zu ihm wandte.

„Er sitzt fest,“ höhnte er, „und fest ist das Schloß wie das Gitterwerk seiner Fenster, er wird mir und der Guillotine nicht entwischen!“ Dann verschwand er wieder und die schwere Thür schlug so gewaltig hinter ihm zu, daß es wie Donnerton durch das öde Kirchenschiff und hinaus in den Hof hallte.

Seltsam! aus diesem schweren dumpfen Schalle, der zwischen den Kirchenmauern langsam verhallte, stieg draußen auf dem Hofe der leise Klang einer Frauenstimme empor. Es war dasselbe Lied – dieselbe Stimme, welche der Graf vorhin gehört hatte, und die nun sang:

„Als Kind schon hörte ich den Sang,
Der mir ein Trost bis heut erklang.
Und Wort und Ton, und Ton und Wort,
Send’ ich als Trost zum fernsten Ort.“

Einen Augenblick horchte René dem Gesang und der Stimme, unfähig zu athmen, sich von seinem Sitze zu erheben. Dann sprang er mit dem Ausrufe: „Blanche! es kann nur Blanche sein!“ empor und flog auf eines der Fenster zu.

Draußen sah er hinter den Karren eine Bauerndirne, eine unbeholfene Gestalt, die das Lied gesungen haben mußte. Sie entfernte sich und drehte ihm dabei den Rücken zu. Nun aber, bevor sie in einem der Schuppen verschwand, wandte sie den Kopf nach der Sacristei hin – und der Graf erblickte ein gebräuntes fremdes Gesicht. Ein Ruf der Enttäuschung, den er hatte ausstoßen wollen, wandelte sich plötzlich in einen solchen der Ueberraschung und der Freude. Denn dicht unter dem Fenster, an dem er weilte, stand ein alter Mann in der Jacke der Landleute, mit langen weißen Haarsträhnen, die unter dem breitrandigen Hute hervortraten und das tiefgefurchte Gesicht umrahmten.

„Gratien!“ schrie Graf René sich vergessend auf, und der Alte flüsterte erschrocken:

„Um aller Heiligen willen, Herr Graf, schweigt und nehmt – thut, was ich sage!“ Damit warf er ein zusammengeknotetes kleines Bündel durch die Eisenstäbe des Fensters in die Sacristei und fuhr hastig fort: „Werft Euren Rock ab – in dem Bündel findet Ihr eine lange Jacke und einen Hut – legt Beides an. Dann entfernt von dem kleineren Fenster die mittelste der Eisenstangen – Pujol hat sie gelockert – und kommt durch die Lücke! Keine Minute ist zu verlieren.“

René hatte schon den Rock abgeworfen, das Bündel geöffnet und eine Schooßjacke nebst einem alten Breithute hervorgezogen und angelegt. Nun eilte er an das bezeichnete kleinste der Fenster – ein Rütteln an dem mittelsten der Eisenstäbe zeigte, daß er in der That nur lose in den Mauersteinen saß. Noch wenige Augenblicke, und er hielt ihn in seinen Händen. „Eine Waffe!“ keuchte er mit leuchtenden Blicken, dann zwängte er sich durch die schmale Oeffnung und sprang in den Hof hinab. Der alte Gratien zog ihn hinter den Fuhrwerken rasch mit sich fort.

Es war die höchste Zeit, denn schon setzten sich einige der Karren in Bewegung, doch die Beiden gelangten glücklich und unbemerkt zu dem Fuhrwerke, das früher von Pujol mit frischem Stroh versehen worden war. Hier flüsterte Gratien dem Grafen René zu:

„Klettert hinauf! bergt Euch unter dem Stroh. Sind wir draußen vor dem Thor, so dürft Ihr zum Vorschein kommen und ungehindert neben mir einhergehen, auch wird es dann Nacht geworden sein und Niemand Euch erkennen.“

Wenige Augenblicke später lag der Flüchtling wohlgeborgen unter dem Stroh, Gratien, der bereits seinen Gaul vorgespannt hatte, kauerte sich seitwärts auf den Schluß der Gabel seines Karrens, ein Schnalzen mit der Zunge, von einem leichten Peitschenschlage begleitet, und das unbeholfene Gefährt setzte sich langsam und polternd in Bewegung.

Die Wenigen, welche Pferde mit sich führten, ließ Gratien wohl mit Willen an sich vorbei, und als Letzter fuhr er hinter jenen drein; dann folgten die ärmeren Bauern, die ihre Karren selbst, mit Hülfe ihrer Söhne, Gevattern oder Nachbarn, heimwärts schleppen mußten. Pujol hatte das Thor weit geöffnet. Die wachehaltenden Sansculotten, welche noch im Hofe weilten, waren in keinem zurechnungsfähigen Zustande mehr – ihre anderen Cameraden hatten sich in die Stube zurückgezogen, dort ihren doppelten Rausch auszuschlafen, und Le Borgue, der da glaubte, seines Gefangenen sicher zu sein, that sich keinen Zwang mehr an: er trank mit bereits stieren Mienen weiter, höhnte lallend die Ausziehenden mit Worten, die Entsetzen und Abscheu hervorrufen mußten, doch legte er ihnen nichts in den Weg. Als der Karren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 798. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_798.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2022)