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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


vorüber. Tausend Gasflammen brannten, aber sie erschienen wie Kohlen, denn elektrische Sonnen überstrahlten sie mit ihrem silberweißen Mondscheinlicht. Darunter war Alles Bewegung – ein großer Kreisel, in dem viele kleine Kreisel sich unaufhörlich drehten.

Marie taumelte neben ihrem Begleiter in das Gewoge hinein. Man verneigte sich vor ihr – sie fühlte sich von zwei kräftigen Armen gefaßt – im Saal herumgewirbelt. So hatte sie noch nicht getanzt. Der Herr ließ sie los, und sogleich drängte sich ein anderer zu. Man gönnte ihr keine Pause. Ihre Schönheit schien auf die ganze Schaar der Tänzer einen unwiderstehlichen Zauber zu üben. Immer wartete schon ein Dutzend, wenn sie mit einem die Runde gemacht hatte. Und ihr war's, als ob ihr unaufhörlich Jemand in’s Ohr flüsterte: „Schnell, schnell! die Zeit verrinnt – wir haben nur eine Secunde zwischen dem alten und neuen Jahr!“

Da fühlte sie deutlich, daß der Herr, der eben mit ihr walzte, ihr einen Ring vom Finger zog. Und nun wußte sie auch, daß ihr schon mehrere fehlten, die auf dieselbe Weise verschwunden waren. Der folgende Tänzer nahm wieder seinen Tribut und jeder folgende. Marie schämte sich zu sagen, daß die Ringe ihr nicht gehörten, und ließ es willenlos geschehen. Der Ringe wurden immer weniger. Und dann kamen die Armspangen an die Reihe. Der eine sagte: wir müssen die Musik bezahlen, und löste ihr die Agraffe von der Schulter. Nun wurde ihr sehr beklommen zu Muthe. Wie sollte das enden? Aber man ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken, songern zog sie immer wieder in den Kreis der Tanzenden, die ihr alle eine grünliche Gesichtsfarbe zu haben schienen. Da löste sich auch schon das Schloß des brillantenbesetzten Gliederarmbandes, es fiel an ihrem Kleide hinab – viele Hände griffen zu, zerrissen den Schmuck, vertheilten die einzelnen Glieder. Und wieder wirbelte der Tanz.

Plötzlich entstand ein Rückstau der Menge. Viele flüchteten nach den Ausgangsthüren, fanden dieselben aber verschlossen. Die Besitzerin des Locals war erschienen, eine corpulente, grell geschminkte, wunderlich frisirte Dame in feuerrothem tiefausgeschnittenen Kleide. Hinter ihr ging ein Diener, der zwei Teller trug und von Zeit zu Zeit die darin befindlichen Goldstücke schüttelte. Es war nicht zweifelhaft, daß jeder Festtheilnehmer dorthin seinen klingenden Dank zu entrichten habe. Marie besaß nichts; Herr Wunschhold, nach dem sie sich ängstlich umschaute, war verschwunden. Die feuerrothe Dame maß sie mit einem vernichtenden Blick und deutete mit der Hand auf ein Nebenzimmer. Sie mußte dem Winke folgen; die Thüre wurde sofort hinter ihr verriegelt. So war sie nun allein mit einem alten Weibe, das sich sofort daran machte, ihr die Seidenrobe auszuziehen, ohne auf ihr Weinen und Flehen zu achten. Sie warf ihr nur ein zerrissenes Wollentuch um die nackten Schultern und stieß sie dann durch eine kleine Seitenthür hinaus. „Frohes Neujahr, mein Töchterchen!“ gab sie ihr höhnisch mit auf den Weg.

Marie war es, als ob sie tief, tief fiel. Und da lag sie nun auf der Straße im naßkalten Schnee, und über sie hin jagten die vom schneidenden Winde getriebenen Flocken. Sie bebte vor Frost. Das Tuch zog sie am Halse fest zusammen, aber es wärmte sie nicht. Sie raffte sich auf und lief in großer Eile die Straße hinab, immer dicht an den Häusern hin. Ihr war so traurig zu Muthe, und sie schluchzte immer in sich hinein, indem sie zugleich vor Kälte und Angst zitterte. Was sollte sie nun anfangen, wenn sie nach Hause zurückkehrte? Wie durfte sie auf Verzeihung hoffen? Und wenn sie ausblieb, wohin sich wenden? Gewiß würde die Polizei bald hinter ihr her sein und sie als eine Diebin verhaften. Wer würde ihr glauben, daß sie alle die kostbaren Sachen der gnädigen Frau gar nicht habe entwenden wollen, und daß es ihr so schlecht gegangen sei? Sie konnte ja nicht einmal sagen, in welches Haus sie geführt war. Ihr schauerte, wenn sie sich das Gefängniß vorstellte – in dem Roman, den sie vorhin gelesen, war’s so grausig beschrieben. Eine Diebin! Nein, das überlebte sie nicht!

Sie schlug ein schmales Seitengäßchen ein, das nach dem Flusse hinabführte. Er war noch nicht fest gefroren, aber das Wasser lag schwerbeweglich wie geschmolzenes Blei, und im Scheine der Laterne, die drüben auf der Kaimauer brannte, funkelten die Eiskrystalle. Auf dieser Seite war das Ufer ziemlich flach; das Gäßchen senkte sich in einem Einschnitt desselben bis zu einem Floß hinab, das mit Ketten daran befestigt und über einen hölzernen Steg zugänglich war. Die arme Marie schwankte über denselben, kniete vorn auf dem Randbalken nieder, wie es die Wäscherinnen zu thun pflegen, beugte sich über und schaute in das trübe Naß. Sie wollte beten, aber in der Angst konnte sie nicht einmal das Vaterunser fertig bringen. Daß sie hinab mußte, um sich vor der Schande zu retten, war ihr ganz gewiß; aber ihr junges Leben that ihr doch so leid. Sie wünschte, es möchte ihr Jemand einen Stoß von hinten geben, daß es halb wider ihren Willen geschehen müsse. Und das Wasser so eisig kalt!

Da vernahm sie Lärm ganz in der Nähe. Mehrere Leute polterten mit schweren Schritten heran. „Wo ist sie geblieben?“ wurde gefragt. – „Dort, dort!“ – man suchte sie offenbar. Die Stimmen wurden lauter. Zwei oder drei von den Verfolgern sprangen schon hinter ihr auf’s Floß und trappten dabei kräftig auf. Es war ihr, als ob sie die gnädige Frau sprechen und endlich auch ihren Namen rufen hörte. Sie durfte nicht länger zögern –: ein Ruck des Oberkörpers – die Augen zugedrückt – die Hände gefaltet – und ...

Neues, heftiges Poltern an der Thür. – „Marie – Marie! Aber hörst Du denn nicht? Kann Jemand so fest schlafen?“

„Es wird ihr doch nichts zugestoßen sein? Man muß den Schlosser holen lassen.“

„Marie – Marie –!“

„Gnädige Frau ...“

„Ah! endlich. So öffne doch!“

„Ich hab’s wirklich – nicht thun wollen – gnädige Frau ...“

„Aber so schließe doch auf, Kind! Wir wollen in’s Zimmer.“

„In’s Zimmer? ... O, mein Gott –! In’s Zimmer – ja! die Lampe ... Gleich, gnädige Frau, gleich!

Der Schlüssel wurde mit Hast umgedreht. – „Sie sind’s wirklich, gnädige Frau ... und ich ... und alles war nur ...“

Sie rieb sich die Stirn, in die sich die Kante des Buches tief eingedrückt hatte, und die schlaftrunkenen Augen. „Ach, verzeihen Sie ...“

„Aber so tief zu schlafen!“

„Und so zu träumen“ – sagte Marie beklommen. „Wenn Sie wüßten –! Diese Sylvesternacht vergesse ich nicht mein Leben lang.“

„Nun geh’ zu Bett, es ist wirklich recht spät geworden. Und ein frohes neues Jahr, Marie!“

Ein frohes neues Jahr ...

Was wird’s der armen Marie bringen? – Das kann ich errathen: es ist ein Brief unterwegs, den der Briefträger morgen früh abgeben wird, und die Aufschrift scheint von einer männlichen Hand. Wo das Couvert verklebt ist, zeigt sich ein ganz kleines Bildchen. Im Zwielicht hielt ich’s erst für eine platzende Bombe, aber es stellt ein flammendes Herz dar. Man wird zugeben, daß das bei einem Neujahrsbrief nicht ohne Bedeutung ist. Was aber in demselben geschrieben steht – das ist Briefgeheimniß.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_855.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2018)