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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Die kleine Margarete riß an der Schleife am Halse, um sich von dem Hute zu befreien, und streifte mit einem gleichgültigen Blick das gestickte Vorderblatt ihres weißen Kleides.

„Heidelbeerflecken!“ sagte sie kaltblütig. „Es geschieht Euch schon recht, warum zieht Ihr mir immer weiße Kleider an! Ich sag’s ja immer, Packleinwand wäre am besten für mich –“

Tante Sophie lachte, und eine männliche Stimme fiel ein. Fast mit der kleinen Equipage zugleich war ein junger Mensch in den Hof gekommen, ein hübscher, neunzehnjähriger Jüngling, der Sohn der Frau Amtsräthin und ihr einziges Kind; denn sie war die zweite Frau ihres Mannes und nur die Stiefmutter der verstorbenen Frau Lamprecht gewesen. Der junge Mann hatte einen Stoß Bücher unter dem Arm und kam vom Gymnasium her.

Die Kleine streifte ihn mit einem finsteren Blick. „Du brauchst gar nicht zu lachen, Herbert!“ murrte sie geärgert, während sie die Zügel der Böcke wieder aufnahm, um das Gespann nach dem Stalle zu bringen.

„So? Werde mir’s merken, meine kleine Dame! Aber darf man fragen, wie es mit den Schularbeiten steht? Draußen beim Heidelbeeressen hat das gnädige Fräulein schwerlich seine französische Lektion repetirt, und ich möchte wissen, wie viel Kleckse das Schönschreibebuch heute Abend zu verzeichnen haben wird, wenn die Aufgabe per Dampf erledigt werden muß –“

„Keine! Ich werde schon aufpassen und mir Mühe geben – gerade Dir zum Trotz, Herbert!“

„Wie oft soll ich Dir wiederholen, unartiges Kind, daß Du nicht ‚Herbert‘, sondern ‚Onkel‘ zu sagen hast!“ zürnte die Frau Amtsräthin.

„Ach, Großmama, das geht ja nicht, und wenn er zehnmal Papa’s Schwager ist!“ entgegnete die Kleine unwirsch und mit allen Zeichen der Ungeduld die dunkle Lockenwucht aus dem Gesicht schüttelnd. „Wirkliche Onkels müssen alt sein! Ich weiß aber noch ganz gut, wie Herbert mit Ziegenböcken gefahren ist und mit Bällen und Steinen die Fenster eingeworfen hat. Und vom Doctor war ihm das Obst verboten, und er hat doch immer ganze Hände voll Pflaumen heimlich aus der Tasche gegessen – ja wohl, das weiß ich noch sehr gut! Und jetzt ist er ja auch weiter nichts, als ein Schulfuchs, der noch mit den Büchern unterm Arme geht. – Brr, Hans! Wollt ihr wohl warten!“ schalt sie auf das ungeduldige Gespann und faßte die Zügel fester.

Bei der sehr laut gesprochenen, rückhaltslosen Kritik aus kindlichem Munde war der junge Mann dunkelroth geworden. Er lächelte gezwungen. „Du Naseweis, Dir fehlt die Ruthe!“ preßte er zwischen den Zähnen hervor, während sein scheuverlegener Blick das gegenüberliegende Packhaus streifte.

Die ein wenig schiefhängende äußere Holzgallerie, die im oberen Stock vor den Schiebefenstern dieses alten Hauses hinlief, war auch laubenartig von dem Blattgeflecht des Pfeifenstrauches übersponnen; nur da und dort ließ es Raum für Luft und Licht, indem es einen Rundbogen wölbte. Und in einer solchen grünen Nische blinkte es wie mattes Gold, und manchmal hob sich eine zarte, weiße Hand hinter der Brüstung, um wie träumerisch über das lockere Goldhaar hinzustreichen, oder sich hinein zu vergraben … In diesem Augenblick aber blieb drüben Alles still und unbeweglich. Die Frau Amtsräthin war die Einzige, die das verstohlene Hinüberblicken des Sohnes bemerkt hatte. Sie sagte kein Wort, aber ihre Stirn zog sich finster zusammen, während sie dem Packhaus geflissentlich den Rücken wandte.

„Liebste Sophie, mein Sohn hat Recht – Gretchen wird von Tag zu Tag unmanierlicher!“ sagte sie hörbar gereizt zu Tante Sophie, wobei sie den Ständer mit ihrem Papagei ergriff, um ihn wieder hinaufzutragen. „Ich thue mein Möglichstes, so oft das Kind oben bei mir ist; aber was hilft das Alles, wenn hier unten über ihre Ungezogenheiten gelacht wird? Unsere selige Fanny war in Gretchens Alter schon völlig Dame; sie hatte von Klein auf Takt und Chic in bewunderungswürdiger Weise. Was würde sie sagen, wenn sie ihr Kind so wild und ungezügelt aufwachsen sähe, wenn sie hörte, wie das Mädchen so entsetzlich ‚geradeheraus‘ und unverblümt zu sprechen gewohnt ist! Ich verzweifle an irgend einem Resultat diesem Kopf gegenüber!“

„Hartes Holz, Frau Amtsräthin! Daran läßt sich freilich schwer schnitzeln,“ entgegnete Tante Sophie mit einem humorvollen Lächeln, „Ueber wirkliche Ungezogenheiten lache ich nie – da seien Sie ganz ruhig! Aber damit macht mir unsere Gretel das Leben auch gar nicht sauer … Mit den Knixen und Reverenzen mag’s freilich schwer halten – das glaub’ ich Ihnen gerne, und darin kann ich auch nicht helfen, denn ich bin keine von den sogenannten Weltpolitischen. Ich sehe nur immer darauf, daß dem Wildfang seine schöne Wahrheitsliebe verbleibt, daß das Kind nicht heucheln und schmeicheln und schöne Dinge sagen lernt, an die es selbst nicht glaubt.“

Währenddem brachte die kleine Margarete, die bei dem Wort „Ruthe“ empört aufgefahren war, als fühle sie bereits den Schlag, mit Bärbe’s Hülfe das Gefährt unter Dach und Fach, und Reinhold zeigte dem jugendlichen Onkel seine Schreibübungen.

Der Knabe war von ausnehmend zarter Gestalt, ein dürftig zusammengeschmiegtes Figürchen mit matten, langsamen Bewegungen.

„In der Gretel steckt ein Ueberschuß von Kraft, der will sich austoben!“ fuhr Tante Sophie fort. „Wollte Gott, unser stilles, blasses Jüngelchen da“ – sie zeigte verstohlen nach dem Kleinen, und ihr Blick verdunkelte sich – „hätte ein Theil davon!“

„Ueber sogenannte Kraftmenschen habe ich meine eigene Ansicht, Liebste!“ entgegnete die Frau Amtsräthin achselzuckend. „Mir geht die distinguirte Ruhe über Alles! Da sind wir übrigens wieder einmal bei dem alten Thema von Reinhold’s Schwächlichkeit – wenn Sie wüßten, wie Sie mich mit dieser ewigen Gespensterseherei irritiren! Mein Gott, Lamprecht’s einzige Hoffnung, sein Kleinod! Nein, Gott sei Dank, unser Junge ist innerlich ganz gesund! Der Doktor betheuert es, und ich zweifle nicht, daß Reinhold später einmal seinem Papa an Kraft und Gewandtheit nichts nachgeben wird!“

Diese Behauptung erschien sehr gewagt, wenn man das kümmerliche Menschenpflänzchen am Gartentische mit dem Mann verglich, der in diesem Augenblick in den Hof ritt.

Herr Lamprecht kam von einer andern Seite, als sein Töchterlein, durch die Straße hinter seinem Besitzthum, welche einst die mit Leinen befrachteten Wagen frequentirt hatten. Er kam in der letzten Zeit meist diesen Weg.

So wie die Reitererscheinung aus dem Dunkel des tiefen Packhaus-Thorweges auftauchte, hatte sie etwas überaus Imposantes. Herr Lamprecht war ein auffallend schöner Mann, tannenschlank und dunkelbärtig, voll Feuer und Würde zugleich in Haltung und Bewegungen.

„Papa, da bin ich! Volle zehn Minuten früher als Du! Ja, die Böcke laufen anders, als Dein Lucifer, die laufen ganz famos!“ triumphirte Margarete, die bei dem Getrappel der Pferdehufe auf dem Thorwegpflaster aus der Stallthür gesprungen kam.

Das Geräusch des aufgestoßenen Thorflügels drunten brachte auch Bewegung in das grüne Versteck der Holzgallerie, das gerade über der Einfahrt lag – der blonde Kopf fuhr empor. Vielleicht wurden das Grün der überhängenden Blätter und die altersdunkle Hauswand dahinter zur besonderen Folie und ließen die Maiblumenfrische des jungen Gesichts doppelt blendend hervortreten; auf jeden Fall aber war das Mädchen im hellen Sommerkleide eine Gestalt, die sofort Aller Blicke auf sich ziehen mußte.

Sie bog sich, voller Neugierde, wie es schien, aus dem Blätterrundbogen; dabei fielen zwei dicke Flechten darüber und hingen jenseit des Geländers lang herab, sodaß der Zugwind die blauen Bandschleifen an ihren Enden hin- und herwehen machte.

Und auf der Geländerbrüstung mochten Blumen liegen; bei der hastigen Bewegung, mit welcher das Mädchen den Arm aufstützte, flogen ein Paar schöne Rosen herab und fielen vor den Hufen des Pferdes auf das Pflaster nieder. Das Thier scheute; aber der Reiter klopfte ihm beruhigend den Hals und ritt in den Hof herein. Mit einem seltsam starren Blick, der weder rechts noch links zu sehen schien, zog er beim Näherkommen den Hut; er war achtlos über die Blumen hingeritten und hatte nicht einmal emporgeblickt nach dem offenen Gange, von woher die duftenden Störenfriede gekommen – Herr Lamprecht war ein stolzer Mann, und die Frau Amtsräthin begriff vollkommen, daß er den Bewohnern des Hinterhauses wenig Beachtung schenke.

Seine kleine Tochter dagegen schien anders zu denken. Sie lief bis zum Packhaus und hob die Blumen auf. „Sie binden wohl einen Kranz, Fräulein Lenz?“ rief sie nach dem Gange hinauf. „Ein paar Rosen sind heruntergefallen – soll ich sie Ihnen zuwerfen, oder hinaufbringen? Ja?“

Keine Antwort erfolgte. Das junge Mädchen war verschwunden; es mochte sich, erschrocken über das zurückscheuende Thier, in das Innere des Hauses geflüchtet haben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_006.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)