Seite:Die Gartenlaube (1885) 042.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

muthig und ehrlich zu den flammenden Augen aufblickend. „Du kannst Dich darauf verlassen, es war Jemand hier oben! Ein Mädchen war’s. Sie kam aus dem Zimmer, weißt Du, wo ich die Stirn mit den hellen Haaren am Fenster gesehen habe. Ja, da kam sie heraus und hatte Schuhe mit Bandrosetten an, und wie sie weiterlief, da hörte ich, wie die Absätze auf den Dielen klapperten -“

„Bist Du toll?“ Er drehte sie mit einem Ruck nach dem Gange zurück. Das rothe Abendwölkchen war inzwischen weiter gesegelt, und durch das hochgelegene, kleine Fenster sah nur noch der abgeblaßte Himmel herein – ein graues Dämmerdunkel fing an, den langen Korridor zu füllen.

„Siehst Du noch etwas, Grete?“ fragte er, hinter ihr stehend und mit seinen beiden Händen schwer auf die Schultern des Kindes drückend. „Nein? – Dann nimm auch Vernunft an, Kind! Durch den Flursaal hätte das vermeintliche Mädchen nicht entweichen können, denn wir selbst würden ihr den Weg versperrt haben; die Thüren, wie wir sie da sehen, sind verschlossen, das weiß ich am besten, denn ich habe die Schlüssel – glaubst Du aber, es könne ein Mensch auf dem einzigen Weg, der übrig bliebe, durch das Fensterchen dort oben, hinausfliegen?“

Scheinbar ruhiger nahm er sie bei der Hand und führte sie an eines der Flursaalfenster. Er zog sein Taschentuch heraus und wischte ihr die Thränen vom Gesicht, die ihr Schreck und Entsetzen vorhin erpreßt hatten, – sein Blick schmolz plötzlich in schmerzlichem Mitleid. „Weißt Du nun, daß Du ein rechtes Närrchen gewesen bist?“ fragte er lächelnd, wobei er sich tief bückte, um in ihre Augen zu sehen.

Sie schlang stürmisch ihre kleinen Arme um seinen Hals. „Ich habe Dich so lieb, so lieb, Papa!“ betheuerte sie mit der ganzen Inbrunst eines heißen, zärtlichen Kinderherzens und drückte ihr schmales, sonnengebräuntes Gesichtchen an seine Wange. „Aber Du darfst auch nicht denken, daß ich gelogen habe … Ich habe vorhin nicht geschrieen – sie war’s! Ich dachte, es sei Emma, und wollte sie für ihren dummen Spaß erschrecken. Aber Emma hat ja gar nicht so langes Haar, das fällt mir eben ein, und meine Hand riecht noch nach Rosenöl, weil ich den Zopf festgehalten habe, und das ganze Mädchen roch wie die schönsten Rosen – Emma ist’s doch wohl nicht gewesen, Papa … Durch das kleine Fenster kann freilich Niemand fliegen; aber vielleicht war die Thür an der kleinen Treppe offen, weißt Du, die Bodenthür vom Packhaus –“

Er hatte schon vorhin, ungestüm emporfahrend, ihre Arme von seinem Nacken gelöst, und jetzt unterbrach er sie mit einem lauten Auflachen; aber trotz dieses Lachens sah er plötzlich so blaß und so furchtbar böse aus, daß sich das Kind scheu in die Fensterecke drückte.

„Du bist ein obstinates, dickköpfiges Geschöpf!“ zürnte er, und seine Stirn zog sich immer finsterer zusammen. „Die Großmama hat Recht, wenn sie sagt, die richtige Zucht fehle. Um Deinen Kopf zu behaupten, fabelst Du das ungereimteste Zeug zusammen … Wer möchte sich wohl in eine Rumpelkammer voll Ratten und Mäuse verkriechen, blos, um ein kleines Mädchen, wie Du eines bist, zu necken? … Aber ich weiß schon, Du bist zu viel in der Gesindestube, und da wird Dir der Kopf mit Fraubasen- und Spinnstubengeschichten vollgestopft, und nachher träumst Du am hellen Tage unmögliche Dinge. Dabei bist Du wild wie ein Junge, und Tante Sophie ist viel zu schwach und nachgiebig. Die Großmama hat mich längst gebeten, der Sache ein Ende zu machen, und das soll nun geschehen, und zwar sofort! Ein Paar Jahre in fremder Zucht werden Dich zahm und anständig machen!“

„Ich soll fort?“ schrie das Kind auf.

„Für ein paar Jahre, Grete,“ sagte er milder. „Sei vernünftig! Ich kann Dich nicht erziehen; Großmama’s Nerven aber sind zu angegriffen, um Dein ungestümes Wesen im steten Umgang zu ertragen, und Tante Sophie – nun, die ganze Wirthschaft liegt auf ihr, und sie kann sich nicht so um Dich kümmern, wie es sein müßte –“

„Thue es nicht, Papa!“ fiel sie mit einer für ein Kind fast unnatürlichen festen Entschlossenheit ein. „Es hilft Dir nichts – ich komme doch wieder!“

„Das wollen wir sehen –“

„Ach, Du hast ja keinen Begriff, wie ich laufen kann! … Weißt Du noch, wie Du dem Herrn in Leipzig unseren Wolf geschenkt hattest, und wie der gute, alte Hund nachher einmal frühmorgens draußen vor unserer Hausthür lag, todmüde und schrecklich hungrig? Er hatte sich gesehnt, der arme Kerl, und da hatte er den Strick zerrissen und war fortgelaufen, und so mache ich’s auch!“

Ein herzzerreißendes Lächeln flog um den bebenden Mund.

„Glaub’s schon – unbändig genug bist Du ja! Allein es wird Dir wohl nichts übrig bleiben, als Dich fügen – mit solchen kleinen Trotzköpfen macht man kurzen Proceß!“ sagte er streng. Er wandte sich dabei weg und sah anscheinend durchs Fenster in den Hof hinab; in Wahrheit jedoch glitt sein scheuer Seitenblick über das Gesichtchen, das jetzt einen furchtbaren inneren Aufruhr wiederspiegelte, und wie von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben, bog er sich rasch wieder nieder und strich mit der Hand sanft über die weiche, plötzlich von einer wahren Fieberhitze überglühte Wange des Kindes.

„Geh, sei mein gutes Mädchen!“ redete er ihr zu. „Ich bringe Dich selbst fort – wir reisen zusammen. Und schöne Kleider sollst Du haben, ganz wie unsere kleinen Prinzessinnen –“

„Ach, schenke sie lieber einem anderen Kind, Papa !“ versetzte die Kleine tonlos. „Bei mir giebt’s immer schon am ersten Tage Risse und Flecken. Bärbe sagt immer: ‚Es ist schade um jede Elle Zeug, die der kleine Reißteufel auf den Leib kriegt‘, und da hat sie ganz Recht! – Ich will aber auch gar nicht so sein, wie die kleinen Mädchen im Schlosse;“ – sie hob trotzig den Kops und hörte auf, an ihren Fingern nervös zu pflücken; – „ich kann sie nicht leiden, weil die Großmama immer so vor ihnen knixt.“

Ein sarkastisches Lächeln huschte über Herrn Lamprecht’s Gesicht; gleichwohl sagte er in strengem Ton: „Siehst Du, Grete, das ist’s eben, was die Großmama so oft in Verzweiflung bringt! Du bist ein unhöfliches, kleines Ding und hast die allerschlechtesten Manieren – man muß sich Deiner schämen. Es ist die höchste Zeit, daß Du fortkommst!“

Die Kleine schlug ihre feuchtflimmernden Augen sprechend zu ihm auf. „Hat denn meine Mama auch fort gemußt, als sie noch ein kleines Kind war?“ fragte sie, das hervorbrechende Weinen mühsam niederkämpfend.

Eine dunkle Blutwelle schoß ihm in das Gesicht. „Deine Mama ist immer ein sehr artiges, folgsames Kind gewesen, da war es nicht nöthig.“ – Er sprach mit so gedämpfter Stimme, als sei außer ihm und dem Kinde noch irgend ein horchendes Wesen im Flursaal, vor welchem sich der laute Ton scheue.

„Ich wollte, sie wäre wieder da, die arme Mama! – Sie hat freilich Holdchen lieber auf den Schoß genommen, als mich; aber da hat es doch nie geheißen, daß ich fort sollte ... Eine Mama ist doch besser als eine Großmama! Wenn die ins Bad reist, da freut sie sich und sagt kaum Adieu. Sie weiß nicht, wie ein Kind Alle lieb hat, Alles, Papa, auch unser Haus, ach, und Dambach –“ sie hielt inne, als breche ihr kleines Herz schon bei dem Gedanken an eine Trennung. Das Köpfchen nahezu an die Fensterscheibe gedrückt, suchte sie mit flehentlichem Aufblick die Augen des stattlichen Mannes, der die Finger leise auf der Brüstung spielen ließ und sichtlich mit einer inneren Bewegung rang.

Er schwieg bei der beredten Klage des Kindes. Sein Blick schweifte lange ziellos über die weite Landschaft draußen, und als er sich endlich senkte, da ging ein jäher Ruck durch die hohe Gestalt, und die Finger hörten auf zu spielen … Der Papa war erschrocken – über was denn? Es war weit und breit Nichts zu sehen. Die Sonne war längst fort; auf den Feldern drüben rührte und regte sich nichts; von den ein- und ausfliegenden Schwalben ließ sich keine mehr blicken; auch die Mövchentauben, die tagsüber das Dach des Packhauses umflatterten, hatten den Schlag aufgesucht, und auf dem stillen Gange, unter dem Blätterrundbogen des Pfeifenstrauches stand ja nur Blanka Lenz, wie an jedem Abend, seit sie aus England gekommen war. …

Diesmal aber hatte das Kind keine Augen für das schöne, weiße Gesicht, das wie Mondlicht sanft aus dem dunklen Blattwerk drüben dämmerte – es sah nur, wie der Papa tief aufseufzte, wie er stöhnend mit beiden Händen nach den Schläfen fuhr und sie preßte, als drohe ihm der Kopf zu zerspringen.

Die Kleine schmiegte sich an seine Seite und blickte noch dringlicher zu ihm empör. „Hast Du mich noch lieb, Papa?“

„Ja, Grete.“ – Er sah sie aber nicht an, er starrte immer auf denselben Punkt.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_042.jpg&oldid=- (Version vom 9.11.2019)